Über unscharfe Grenzen

AKTUELLE MUSIK Von elektroakustischen Experimenten bis zu avantgardistischen Laptop-Basteleien: Das Festival „Blurred Edges“ präsentiert zum achten Mal zwei Wochen lang die Vielfalt heutigen Musikmachens

VON ROBERT MATTHIES

Sie rauschen, leiern und leiden mit der Zeit deutlich hörbar an Demagnetisierung. Mit allerhand technischen Unzulänglichkeiten hatte die kurze Ära der Kompakt-Kassette zu kämpfen, bevor die Digitalisierung dem letzten analogen Massenaufnahmemedium den Garaus gemacht hat. Vor drei Jahren wurde die Produktion in Deutschland endgültig eingestellt.

Scheinbar ein technischer Fortschritt, tatsächlich aber nicht mal das: Wirklich schlecht klingen Aufnahmen erst im MP3-Format. Vor allem aber gehe mit der vermeintlich störungsfreien Reduktion auf Nullen und Einsen so etwas wie ein „Gespenst der menschlichen Erinnerung“ verloren, ist sich Hamburgs „Lord of the Deranged“ sicher, der Grenz-Musiker, Hörspielmacher und ausgewiesene Gespensterforscher Felix Kubin: Die herumspukenden akustischen Makel und Unwägbarkeiten bildeten die Aufzeichnung eben nicht einfach ab, sondern interpretierten sie vielmehr.

Deshalb hat der längst auch international renommierte Klangkünstler der guten alten Kompakt-Kassette eine zwischen Hörspiel, Musique concrète und Live-Improvisation changierende und ausdrücklich unnostalgische Hommage gewidmet: „Mein Chromdioxidgedächtnis“. Grundlage für das 40-minütige Werk für Elektronik, Kassettenrekorder, Klavier und Schlagwerk sind Aufzeichnungen von Diktaphonen und Anrufbeantwortern sowie allerlei anderes Klangmaterial aus dem beeindruckenden Archiv des 43-Jährigen. Entstanden im Auftrag des NDR, wird die „Gedächtnisarbeit über eine gescheiterte technische Zukunftsvorstellung“ am Montag in der Reihe „das neue werk“ präsentiert.

Kubins Klang-Untersuchung ist zugleich Auftakt des vom Verband für aktuelle Musik Hamburg (VAMH) koordinierten Festivals „Blurred Edges“. Das will ab Freitag zum achten Mal zwei Wochen lang die weitläufige Alltagskultur der hiesigen Szene verdichten, musikalische Grenzen verschmelzen, fließende Übergänge hörbar machen und die ganze Vielfalt aktueller Musik zur Geltung bringen – von elektroakustischen Experimenten über Avantgarde-DJing bis zu Laptop-Basteleien.

Nicht nur, um die Szene selbst zu vernetzen, Abgrenzungen aufzulösen und Einkapselungen aufzubrechen. Sondern auch, um das dergestalt entstandene Corpus nach außen mit „unscharfen Rändern“ zu versehen: Die verschiedenen Aktivitäten der unterschiedlichen Protagonist_innen der – nicht zuletzt wegen gestrichener Fördergelder – immer noch ein Schattendasein fristenden aktuellen Musik sollen in einem größeren Rahmen präsentiert und damit auch einem größeren Publikum bekannt gemacht werden.

Bis heute ist „Blurred Edges“ dabei basisdemokratisch und ohne künstlerische Leitung organisiert, der VAMH koordiniert Bewerbungen, Organisation und Pressearbeit, die zahlreichen unterschiedlichen Veranstalter – Musiker, Veranstaltungsräume oder -reihen – kuratieren ihr Festival aber selbst.

Rund 50 Veranstaltungen an 16 Tagen sind dabei in diesem Jahr zusammengekommen. 25 über die ganze Stadt verteilte Spielstätten vom Golden Pudel Club bis zur Hochschule für Musik und Theater (HfMT) präsentieren Komponiertes und Improvisiertes, Soundart und Klanginstallationen, visuelle Musik und Ausstellungen, Vorträge, Vermittlungsprojekte und Performances im öffentlichen Raum.

Erleben kann man dabei nicht nur geradezu übliche Verdächtige wie das Komponistenkollektiv Nelly Boyd, das Ton-Art Ensemble, Michael Petermanns „Blödes Orchester“ aus historischen Staubsaugern, Mixern und Waschmaschinen, das elektronische „Mensch / Ding-Orchester“ Les Trucs oder das Impro-Duo Hunger. Zu Gast ist etwa auch der schwedische Komponist Erik Nyström, der zwei seiner Arbeiten auf der neuen Wellenfeldsynthese-Anlage der HfMT präsentiert. Bewegend ist auch das Projekt „streetscan“ des Hamburger Konzept- und Klangkünstlers Hans-Christian Jaenicke: Für sein „Konzert für fahrendes Klavier“ hat er feine Vibrationen und starke Erschütterungen genutzt, um sein Instrument zum Klingen zu bringen – bis es als Klangkörper vollends unkontrollierbar geworden ist.

■ Fr, 3. 5. bis Sa, 18. 5., diverse Orte, www.blurrededges.de