: Heute Braten, morgen Braten
Mecklenburg-Vorpommern ist ein Fleischland: Gegessen wird, was zwei Augen hat. Mit Wurst, Hack und Speck feiert der Nordosten ein Revival des Konsumverhaltens im Wirtschaftswunder – dementsprechend mager sind die Möglichkeiten an der Küste für Vegetarier
von Jan Freitag
„Aber Huhn essen Sie doch, oder?“ Es sind Sätze wie dieser, die Vegetariern das Leben in Mecklenburg-Vorpommern schwer machen. Denn Mecklenburg-Vorpommern ist ein Land, in dem vor allem das auf den Teller kommt, was das Tier nach seiner Schlachtung hergibt. In Meck-Pomm geht es um Fleisch. Und Wurst und Gehacktes und Innereien und Speck und Knochen.
„Kinder kommt rein, das Essen wird welk!“ Das ist so eine Stichelei gegen Fans alternativer Ernährungsgewohnheiten, die man in Mecklenburg-Vorpommern dagegen kaum zu hören kriegt. Denn im noch immer agrarisch geprägten Land an der Ostseeküste fehlt es nicht nur an Vegetariern, sondern mehr noch an Menschen, die sich darüber bewusst sind, dass es überhaupt welche gibt. Oder was genau die eigentlich wollen.
„Ja, das ist vegetarisch“, lautet zum Beispiel oft die Versicherung, wenn man, sagen wir mal: Grünkohl in einer Kantine serviert kriegt. „Und was sind das da für rote Stückchen drin?“ Die Frau hinter der Glastheke guckt dann gern wurschtig: „Na Speck. Das essen Sie auch nicht?“ Faszinierend, dieses Mecklenburg-Vorpommern. Ein Mekka für Linguisten, Sozialwissenschaftler und Ökotrophologen.
Lange Zeit als ein einziger Kartoffelacker einfach gestrickter Bauern verschrien, als Kornkammer des Nordens und slawischer Vorposten am Rande Polens, ist es heute eher ein Fleischland. Oder besser: „Ein fleischiges Land, da können Sie sich aber drauf verlassen“, wie Klaus-Peter Kudruhs vom Landes-Tourismusverband in Schwerin nicht ohne Stolz bekennt. „Das sind ja auch alles kräftige Burschen hier bei uns“, fügt er lachend hinzu.
Die Bio-Gastronomin Gertrud Cordes muss sich auf ihrem Landgut fühlen wie Asterix im gallischen Dorf. Vor zehn Jahren ist sie in das Dorf ihrer Eltern zurückgekehrt, hat den alten Familienbesitz zurückersteigert und daraus eines von nur zwei vegetarischen Restaurants in Mecklenburg-Vorpommern gemacht. Ayurvedische Steckrüben mit Sojafleisch an Basmatireis stehen an diesem Vorweihnachtsabend auf der Speisekarte vom „Gutshaus Stellshagen“. Dazu Gerichte, die für den gemeinen Mecklenburger eher wie eine indische Fastenkur als nach vollwertiger Mahlzeit klingen müssen: Maispuffer auf Kerbelschaum etwa. Oder Rote Beete mit Meerrettichsahne.
Wie stets über die Festtage ist das ständig wachsende Hotel unweit von Lübeck mit seiner exquisiten pflanzlichen Küche und dem esoterisch angehauchten Angebot aus asiatischer Heilkunde, Meditation, Wellness und Übernachtung ohne Fernseher auf den 53 Zimmern ausgebucht. Das Geschäft mit der „echten Marktlücke“, wie die Besitzerin ihre Idee nennt, sorgt übers Jahr für eine Auslastung, die selbst im Tourismus-Boomland Mecklenburg-Vorpommern über dem Schnitt liegt.
Und das hat vor allem zwei Gründe: Der eine steht auf dem Parkplatz und trägt Kennzeichen aus ganz Deutschland. Der andere kommt auch mit dem Auto (volljährige Landeskinder bewegen sich nur auf ärztlichen Rat anders fort), hat es aber nicht so weit. „Es kommen immer mehr Gäste aus unserer Region“, sagt der Naturfreak, so nennt sich die neue Gutsherrin selbst. Und nach jedem neuen Tierskandal werde die Bude schneller voll. Was kaum überrascht: Die Auswahl an vergleichbaren Gaststätten im Land ist erbärmlich. Neben dem zweiten Hotelrestaurant mit rein pflanzlichem Angebot – dem „Haus Linden“ auf dem Darß – fand selbst der deutsche Vegetarier-Bund für seine Liste nur noch zwei Häuser mit teilweise vegetarischer Speisekarte.
Mehr als acht Prozent der Bundesbürger ernähren sich nach einer jüngeren Studie des Meinungsforschungsinstituts Forsa mittlerweile vegetarisch, nachdem dies vor 20 Jahren – zumindest im Westen – gerade mal jeder 200. tat. Kein Wunder, sorgt doch die unendliche Kette aus Skandalen von Rinderwahn über Vogelgrippe bis Gammelfleisch für einen steten Bewusstseinswandel beim Ernähren.
Der Vegetarierbund schätzt, dass allein seit der BSE-Krise vor fünf Jahren jede Woche 4.000 Bürger umkehren zur fleischlosen Kost. In Meck-Pomm ist von diesem Wandel aber wenig zu spüren: Keine zehn Bioläden gibt es im Land mit der verhältnismäßig größten ökologisch bewirtschafteten Fläche. Der Osten, weiß Edmund Haferbeck, „hinkt beim Essverhalten um 20 Jahre hinterher“. Und entnervt fügt der Grüne Stadtvertreter der Kapitale des rot-rot regierten Bundeslandes und Vorsitzender der örtlich organisierten Vegetarier hinzu: „Mecklenburg-Vorpommern sogar noch ein bisschen mehr.“
Dafür gibt es gute Gründe. Das Konsumverhalten der angeschlossenen Ostdeutschen folgte dem Muster einer Art nachholenden Wirtschaftswunders. Der randvolle Teller galt wie im Westen der Fünfziger als Zeichen ruckartig gestiegenen Wohlstands, grünes Gedankengut hatte 1990 den Zenit seiner Strahlkraft überschritten, und dass sich Nahrungsketten in einem Bundesland etwas rustikaler gestalten, das damals wie heute die meisten Leberzirrhosen, die geringste Bevölkerungsdichte und ein Schwein auf zwei Bewohner aufwies, ist da nicht sonderlich verwunderlich.
Und dann fand der bundesweit größte Öko-Skandal auch noch in einer mecklenburgischen Scheune statt. Nitrofen lautet der Name eines ungesunden Pestizids, und es war besonders für Fleisch-Fans im Nordosten der Beweis, dass es eigentlich egal ist, was man isst, Hauptsache es schmeckt und kostet so gut wie nix.
Daran kann wohl kein Skandal etwas ändern. Nirgends wird mehr Fleisch gegessen als in Meck-Pomm, nirgends ist es häufiger vorverpackt. Unsere Nachbarn, erinnert sich Bio-Gastronomin Gertrud Cordes an den Anfang, „wollten nebenan eine Schweinshaxenstube eröffnen, damit unsere Gäste mal richtig satt werden“. Ein Scherz, sicher, aber einer, der tief aus der Seele der Leute spricht.
„Und Fisch esse Se ach net?“, heißt es dagegen beim Füllen der Müslischalen am Frühstücksbuffet. Gertrud Cordes, die 25 ihrer 50 Jahre nichts gegessen hat, was Augen besitzt, würde darauf heute mit einer Milde antworten, die etwas überrascht: „Ich esse ab und zu Fleisch.“ Nicht gern, aber der nährstofflichen Rundumversorgung wegen. Und dass ihre neuen Landsleute bei ihr ab und zu mal das Fleisch weglassen, hält sie für einen Erfolg. Dort, wo als vegetarisch schon gilt, was mit Gemüse ist.