: Irrflüge im Pharma-Dschungel
Pro Jahr erhalten Patienten allein in Deutschland rund 12 Millionen falsche Rezepte. Zahlreiche Krankschreibungen und Klinikaufenthalte könnten vermieden werden, wenn Ärzte und Apotheker sorgsamer bei der Vergabe von Arzneimitteln wären
VON JÖRG ZITTLAU
In Deutschland sterben mehr Menschen an den Folgen von ärztlichen Behandlungsfehlern als an Verkehrsunfällen oder Brustkrebs. Vieles davon passiert bei Operationen und anderen massiven Eingriffen. Doch auch im unspektakulären Therapiealltag, wenn der Arzt dem Patienten ein Rezept für ein Medikament ausstellt, lauern Gefahren.
In Deutschland führen unerwünschte Arzneimittelwirkungen jährlich zu 88.000 stationären Aufnahmen, von denen laut einer Erhebung der Uni Erlangen etwa die Hälfte durch korrekte Verordnung und Handhabung des Mittels vermeidbar gewesen wäre. In einer Querschnittuntersuchung an deutschen Apotheken erwiesen sich knapp zwei Prozent der Rezepte als fehlerhaft. Wenn man diese Quote auf alle Verordnungen hochrechnet, sind das pro Jahr 12 Millionen Rezepte, die an den tatsächlichen Bedürfnissen des Patienten vorbeizielen. Davon hat laut Martin Beyer, Medizinsoziologe am Uni-Klinikum Frankfurt, jedes zehnte ein „erhebliches Schädigungspotenzial“.
Falsch ausgefüllte Rezeptblöcke sind also keine Bagatelle. Experten wie der saarländische Gesundheitsminister Josef Hecken warnen jedoch davor, die Schuld dafür einseitig den Ärzten zuzuschieben. Dies führe nur dazu, dass die Ärzte mauern und „eine notwendige Thematisierung des Problems unterbleibt“. Denn wem das falsche Ausfüllen des Rezeptblocks permanent als persönliches Versagen angerechnet wird, entwickelt nur wenig Bereitschaft, mit der notwendigen Ehrlichkeit an das Problem heranzugehen. In der Tat scheint die Verordnungsmisere ein ganzes Bündel von Ursachen zu haben. Der Mediziner Wolfgang Krapp stellte in seiner Untersuchung an 20 niedergelassenen Arztpraxen fest, dass neben dem Arzt auch seinem Personal zahlreiche Fehler beim Ausfüllen der Rezepte unterlaufen. Ein typisches Versehen ist beispielsweise, wenn anstelle des Allergiemittels „Lisino“ der ähnliche klingende Blutdrucksenker „Lisinopril“ auf den Rezeptblock geschrieben wird. Mitunter versagt aber auch die Apotheke als Kontrollinstanz. In einem der von Krapp untersuchten Fälle erhielt eine Krebspatientin ein Rezept, auf dem gar nicht ihr Name stand. Sie wurde trotzdem „versorgt“, mit dem Argument: „Da steht zwar der falsche Name drauf, aber das Medikament bekommen Sie trotzdem.“
Darüber hinaus können die Ärzte mittlerweile aus knapp 2.000 Wirksubstanzen in über 50.000 Arzneimitteln wählen, die neben ihren therapeutischen Effekte auch tausende von Neben- und Wechselwirkungen haben. In diesem Wust fällt der Überblick schwer. „Diese Datenmenge auswendig zu beherrschen, wäre“, so Hecken, „als würde man die Telefonauskunft einer Großstadt aus dem Kopf und ohne Register bestreiten wollen.“
Die Ärzte tappen also durch einen unentwirrbaren Präparatedschungel und die dafür verantwortliche Pharma-Industrie hat kein sonderliches Interesse daran, dass sich daran etwas ändert. Eine deutsche Arztpraxis erhält pro Jahr etwa 170 Besuche von einem der 15.500 Pharma-Referenten, die zwischen Flensburg und Konstanz herumreisen. Die hinterlassen nicht nur stapelweise Werbebroschüren für ihre Medikamente, sondern oft genug auch lukrative Geschenke. Dass dabei dem Arzt das kritische Urteil und auch der Blick auf den tatsächlichen Bedarf des Patienten verloren zu gehen droht, liegt auf der Hand.