: Gelacht werden darf nicht
THEATER Das auf Dialogen basierende Stück „Wastwater“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters hat etwas Erschlagendes
Am Morgen hatte ich noch gelernt: Bindung ist alles. In einem Interview mit dem Wochenblatt DIE ZEIT erklärte der Sexualwissenschaftler Christoph Ahlers, wir seien auf Bindung programmiert, und auch beim Sex ginge es in der Hauptsache um Kommunikation und „Erlösung durch Überwindung von Vereinzelung“.
Am Abend saß ich in einem Saal voller Fremder (in den Kammerspielen des Deutschen Theaters) und schaute nach vorn. Immerhin hatten alle dasselbe Programm, alle hatten eine Karte und einen Sitz, und fast alle hatten ihr Handy ausgeschaltet, obwohl gleichzeitig ein irre wichtiges Fußballspiel lief (und so manche schauten bereits beim Schlussapplaus nach, wie das Spiel denn ausgegangen ist). Auf der Bühne sortierten sich schnell sechs Erwachsene und ein Kind in drei Paarkonstellationen, die unter einem Flughafenhimmel, einer Reihe Neonlampen in einem sonst wie unbestimmten Raum miteinander, ja, redeten, meist ohne direkt körperlich zu werden. Obwohl es um Sex, laut Ahlers das beste Kommunikationsmittel der Menschen, natürlich auch ging.
Minimaltheater, englisch
Das dargebotene Stück hieß „Wastwater“, stammt von dem vergleichsweise jungen Engländer Simon Stephens, der zu den angesagten neuen Dramatikern der Insel gehört; ins Deutsche übersetzt wurde das Stück von Barbara Christ, und die Regie führte Ulrich Matthes, selbst als Schauspieler und Stimme bekannt.
Regie, Bühnenbild, Stück bildeten einen Dreiklang, den man durchaus minimalistisch nennen muss. Ein schwarzer Raum, eine Treppe hinten, ein paar Neonröhren. Der Lärm von startenden und landenden Flugzeugen und zwischen den Akten die nicht minder minimalistische Musik von Thies Mynther (ja, genau dem: dem Tausendsassa der Hamburger Schule). Die Dramaturgie basiert allein auf den Dialogen – zwischen jeweils genau zwei ProtagonistInnen. Minimaltheater, sehr englisch.
Englisch auch, weil im Wesentlichen Geschichten erzählt werden, nur eben in Dialoge verpackt. Autobiografische Geschichten. Die große, aber nicht demonstrativ ausgestellte Klammer bildet die Familie – der erste Akt spielt sich zwischen einer Mutter und ihrem gen Kanada abreisenden Sohn ab (gut: Barbara Schnitzler und Thorsten Hierse). Im Schlussakt wird eine etwas zwielichtige Geschichte zwischen Adoption und angedeuteter Pädophilie erzählt (gut: Bernd Stempel, nicht ganz so gut: die etwas übereifrig betonende Elisabeth Müller). Nur in der Mitte, da findet die Familie in spe in ihrer gescheiterten Form statt: Eine Polizistin, die außerdem Exjunkie und Expornodarstellerin ist, trifft sich zum Sexdate mit einem jungen Kunstdozenten und Exkünstler (beide gut: Susanne Wolff und Moritz Grove).
Familie: gescheitert
Geschichten aus der Jetztzeit also, und bis auf Fußball kommen alle aktuellen Äußer- wie Innerlichkeiten vor: Der Sex in Zeiten der Pornografie, der große Konsumterror, die Entfremdung, die verstörten Befindlichkeiten. Das Handy, die Filmschnipsel, die böse, kalte Welt, wie sie in Flughafenhotels ihre räumliche Entsprechung findet.
Gelacht werden darf nicht, auch sind die abstrakten Gedanken eher versteckt gestreut. „Wir sind alle vernetzt“, heißt es in der Mitte, die Bindungen laufen im Wesentlichen nach bekannten Mustern.
Dass alle drei Akte durch Kleinigkeiten miteinander verbunden sind – geschenkt. Im Beiheft wird ein wenig auf zeitgemäße Philosophie gemacht und Byung-Chul Han zitiert. Um Natur – der See „Wastwater“ ist der tiefste See der Insel, ein guter Ort also, um Leichen verschwinden zu lassen – geht es irgendwie auch. Natur als etwas, woran man sich erinnert. Insgesamt hatte das Stück etwas Erschlagendes, und der Schlussapplaus musste erst allmählich anschwellen. Danach verstreute sich das Publikum wieder – aus den losen in festere Bindungen hinein, vielleicht. RENÉ HAMANN