: „Die Kohortenfertilität nimmt zu“
DEMOGRAFIE Eine neue Prognose sagt, dass Frauen in Deutschland wieder mehr Kinder kriegen. Das sei ein echter Wendepunkt, meint die Demografin Michaela Kreyenfeld
■ 43, ist stellvertretende Abteilungsleiterin des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock (MPIDR).
INTERVIEW JASMIN KALARICKAL
taz: Frau Kreyenfeld, eine neue Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung zeigt, dass die Geburtenrate in Deutschland wieder steigen wird. Sind die Warnungen vor sinkenden Kinderzahlen also verfehlt?
Michaela Kreyenfeld: Nicht nur in Deutschland, sondern in 25 von 37 untersuchten vergleichbaren Ländern haben wir eine steigende oder stagnierende Fertilität beobachtet. Das sind echte Neuigkeiten.
Gerade für Deutschland klingt dies überraschend. Leiden wir unter einer jahrelangen Fehlwahrnehmung?
Wenn wir von Geburtenentwicklung sprechen, ist in der Öffentlichkeit vor allem die jährliche Geburtenziffer präsent. Diese Ziffer liegt seit den siebziger Jahren fast konstant bei 1,4 Kindern pro Frau. Sie gilt als durchschnittliche Kinderzahl pro Frau. Demografen wissen aber, dass dieser Wert nur ein berechneter Schätzwert ist – der verzerrt ist. Der Wert 1,4 ist für Deutschland definitiv zu niedrig angesetzt.
Wieso sitzen wir einer verzerrten statistischen Interpretation auf?
Statt der Geburtenziffer für jedes Jahr – 2011, 2012 und so weiter – kann man die Kinderzahl von Frauen nach ihren Geburtsjahrgängen – 1970, 1972 und so weiter – berechnen. Das Fachwort dafür heißt „Kohortenfertilität“, die Fruchtbarkeit pro Jahrgang. Bei Frauen, die jetzt zwischen 45 und 50 sind, können wir mit Sicherheit sagen, wie viele Kinder sie bekommen haben, weil sie am Ende ihrer Reproduktionsphase sind. Für die Jahrgänge um 1965 waren es durchschnittlich 1,5 bis 1,6 Kinder. Das sind höhere Werte, als es die jährliche Geburtenziffer vorgibt.
Was ist mit den Jahrgängen ab den 70er Jahren?
Für die jüngeren Jahrgänge muss prognostiziert werden, weil sie noch ein paar Jahre vor sich haben, in denen sie Kinder bekommen können. Je nach Methode gibt es einen leichten Anstieg oder ein Verharren auf demselben Niveau. Bei einer konservativen Schätzung kann man annehmen, dass die Frauen, die jetzt 40 sind, genauso viele Kinder kriegen wie diejenigen, die das Jahr zuvor 40 waren. Wenn man aber den Tempoeffekt berücksichtigt – also die Annahme, dass Frauen immer später Kinder bekommen –, kommt man zu dem Ergebnis, dass die Kinderzahlen in Deutschland leicht steigen werden.
Die jährliche Geburtenziffer steht seit Jahren ganz oben auf der Agenda, sei es in der Familien-, Renten- oder der Einwanderungspolitik. Wurde all die Zeit eine falsche Politik gemacht?
Von falscher Politik zu sprechen ist ein bisschen übertrieben. Aber man ist einfach etwas zu konservativ mit diesen Themen umgegangen.
Was bedeutet die Annahme, dass vielleicht mehr Kinder kommen werden als erwartet, für den Kitaausbau? Wird er die Nachfrage stillen können?
Da muss man wieder zwischen der Kohortenrechnung und den jährlichen Geburtenzahlen unterscheiden. Die jährlichen Geburtenzahlen hängen davon ab, wie viele Frauen in einem Land sind. Die Zahl der Frauen, die Kinder bekommen, sinkt eher. Also selbst wenn die endgültige Geburtenrate steigt, heißt das nicht, dass die absolute Anzahl an Kindern steigt.
Also ist die steigende Geburtenrate doch kein Aufreger?
Für Demografen ist es sehr relevant, ob es eine Trendumkehr in der Geburtenentwicklung gibt. Denn seit den Frauen, die in den 1930er Jahren geboren wurden, geht die Geburtenziffer kontinuierlich zurück. Nun haben wir einen echten Turning Point. Diese neuen Entwicklungen zeigen auf, dass auch moderne, säkulare Gesellschaften mit niedriger Kinderlosigkeit und einer relativ hohen Fertilität kompatibel sind.
Was sind denn die Gründe für diesen Wandel?
Es liegt nahe, die Familienpolitik als Grund anzuführen. Da hat sich ja mit den Kitaausbaugesetzen und der Elterngeldreform viel bewegt. Allerdings kann man im Ländervergleich beobachten, dass es diesen Trend auch dort gibt, wo es keine vergleichbaren Reformen gab. Es kann also nicht nur an der Familienpolitik liegen, es haben sich auch Einstellungen geändert.
Die neue Studie erfasst die Mütter-Jahrgänge bis 1979. Was passiert denn danach?
Bei den jüngeren Jahrgängen weiß man noch zu wenig über deren Fertilitätskarrieren. Schaut man sich aber Studien zum Thema Kinderwunsch an, so lässt sich erkennen, dass für die meisten jungen Männer und Frauen Kinder und beruflicher Erfolg zu ihren Lebenszielen gehören. Der Hauptgrund für den langjährigen Geburtenrückgang war ja die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen.
Wie wirkt sich die Finanzkrise in Europa aus?
Für Südeuropa lässt sich derzeit schon ein Zusammenhang zwischen Krise und Geburtenentwicklung erkennen. Aber wir wissen nicht, wie lange die Krise anhält – und wie sie sich letztlich auswirken wird.