„Eine schwierige Stunde für uns alle“

Nach Scharons Hirnblutung führt Vizepremier Olmert Israel in eine ungewisse Zukunft

„Selbst die Lippen seiner Gegner flüstern die Hoffnung: Werde wieder gesund“Wer die Wahlen im März für sich entscheidet, liegt letztendlich in der Hand militanter Palästinenser

Aus Jerusalem SUSANNE KNAUL

„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben“, so ermutigt der israelische Abgeordnete Rabbi Abraham Ravitz von der Partei „Judentum und Thora“ seine Kollegen. Keiner der Politiker in Jerusalem schien indes gestern früh noch daran zu glauben, dass Premierminister Ariel Scharon nach seiner schweren Hirnblutung je wieder in sein Amt zurückkehren wird. Nach mehrstündiger Kopfoperation verkündeten seine Ärzte gestern, dass die Blutungen im Hirn gestillt werden konnten, sein Zustand trotzdem ernst bleibe. Sie versetzten ihn in ein künstliches Koma.

Scharon hatte schon vor zwei Wochen eine Gefäßblockade im Gehirn – einen so genannten ischämischen Schlaganfall ohne Hirnblutung – erlitten, bei dessen Behandlung im Krankenhaus ein Geburtsfehler am Herzen entdeckt wurde, der durch einen operativen Eingriff diese Woche behoben werden sollte. Um einen weiteren Schlaganfall dieser Art zu verhindern, verschrieben die Ärzte ein Medikament zur Blutverdünnung. Möglicherweise hat gerade diese Maßnahme die Blutungen im Gehirn ausgelöst. Am Mittwochabend wurde der Premierminister mit starkem Unwohlsein per Ambulanz ins Krankenhaus gebracht, wo sich sein Zustand umgehend dramatisch verschlechterte.

„Das ist ein schwierige Stunde für uns alle“, eröffnete Ehud Olmert, der in Vertretung Scharons vorläufig die Regierungsgeschäfte leitet, die Sondersitzung des Kabinetts. Olmert appellierte an die Minister, „zu beten und weiter auf gute Nachrichten aus dem Krankenhaus zu hoffen“. Scharon sei nicht nur Regierungschef und „Führer“ gewesen, „sondern ein enger Freund von uns allen“.

Ob Freund oder nicht: Die Segenswünsche, die aus dem ganzen Land zum Ein-Karem-Hospital in Jerusalem geschickt werden, klingen glaubwürdig. „Selbst die Lippen seiner Gegner flüstern die Hoffnung: Werde wieder gesund“, so schreibt Amnon Dankner, Chefredakteur des liberalen Maariw, nicht ohne Pathos, doch damit trifft er den Nerv seiner Leser. Scharon erfreute sich in den vergangenen Monaten einer Sympathie wie nie zuvor.

Grund dafür ist die Kombination von Härte und Sicherheitsdenken einerseits sowie Pragmatismus und Kompromissbereitschaft auf der anderen Seite. Der schon Anfang der 80er-Jahre von vielen politisch am Ende geglaubte ehemalige Verteidigungsminister verdankt sein Comeback niemand anderem als dem inzwischen verstorbenen Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat. Die zweite Intifada, die Scharon selbst durch seinen provozierenden Besuch auf dem Tempelberg im September 2000 mit auslöste, die Militarisierung des palästinensischen Widerstandes und die zahllosen blutigen Selbstmordanschläge ließen die Ausgleichsstimmung im Land umschlagen. Scharons hartes Vorgehen in den Palästinensergebieten und die Isolation Arafats stießen nicht mehr länger auf nennenswerten Protest.

Was letztendlich auch seine jahrzehntelangen Gegner zu Kundgebungen für die Regierungspolitik auf die Straße trieb, war der von Scharon initiierte und nahezu im Alleingang gegen die eigene Partei und weite Teile des Kabinetts vorangetriebene Abzug aus dem Gaza-Streifen. Gut 20 Jahre nach dem Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatilla, dem Scharons Truppen tatenlos zusahen, mobilisierte die israelische Linke tausende Menschen zur Unterstützung des ihnen so lange so verhassten Politikers.

Dabei stammte die Idee des einseitigen Abzugs noch nicht einmal aus seiner Feder. Amram Mitzna, damaliger Spitzenkandidat der Arbeitspartei, war, nur kurze Zeit bevor Scharon „seine“ Initiative der Öffentlichkeit mitteilte, kläglich mit genau diesem Programm am Wähler gescheitert. Ein moderater Friedenspolitiker hätte einen solch dramatischen Schritt wie die Aufgabe besetzten Landes und die Evakuierung jüdischer Siedlungen niemals durchsetzen können.

Dazu bedarf es eben eines Mannes, der in allen israelischen Kriegen nicht nur mitkämpfte, sondern, wie 1973 im Jom-Kipur-Krieg, das Land mit zum Sieg führte. Auch wenn er dabei seine Kompetenzen bisweilen deutlich überschritt. Die Grenzen seiner Befugnisse interessierten ihn damals genauso wenig wie heute. Scharon hat ein Ziel und setzt es durch, sei es, die ägyptischen Soldaten in die Flucht zu schlagen, bis Beirut vorzupreschen, jüdische Siedlungen zu bauen oder eben auch wieder abzureißen.

Knapp drei Monate vor den Parlamentswahlen am 28. März werden nach dem Ausscheiden Scharons aus dem politischen Leben die Karten neu gemischt. Seiner Partei Kadima gaben Umfragen über 40 Prozent der Wählerstimmen – bevor Scharon ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Ein Ergebnis, dass ohne den Chef unmöglich zu halten ist. Die Kadima wird so schnell wie möglich einen komissarischen Vorsitzenden ernennen. Vizepremierminister Olmert hat vermutlich die besten Chancen (siehe Porträt Seite 2). Der ehemalige Bürgermeister von Jerusalem stützte den Abzugsplan von Beginn an vehement. Was ihm fehlt, um die Wähler für sich zu gewinnen, ist der Rang des Brigadegenerals. Olmert machte sich nicht auf dem Schlachtfeld verdient, sondern als militärischer Reporter für das Armeemagazin Be Machane.

Abgesehen von Olmert und dem deutlich rechts von ihm stehenden Verteidigungsminister Schaul Mofaz, hat die Kandidatenliste der Kadima nur wenige attraktive Namen zu bieten. Die Partei verfügt weder über eine Basis noch über ein anderes Parteiprogramm als die Befürwortung des Abzugs sowie die vage Perspektive auf eine Wiederaufnahme des internationalen Friedensplans „Roadmap“. Angesichts der bisherigen Umfrageergebnisse ist indes unwahrscheinlich, dass sich die Liste wieder auflöst und die Politiker in ihre alten Lager zurückkehren. Selbst wenn sie nur die Hälfte der prognostizierten Stimmen erreicht, gibt es noch immer die Chance einer Regierungskoalition zwischen Kadima, der Arbeitspartei und der antireligiösen Schinui.

Der Wegfall des politischen Konkurrenten Scharon gibt Likud-Chef Benjamin Netanjahu Auftrieb. Er wird seine Kampagne auf die Sicherheitspolitik konzentrieren, im Gegensatz zum Chef der Arbeitspartei Amir Peretz, der mit seinem Sozialprogramm Punkte zu sammeln versucht. Wer den Wahlkampf letztendlich für sich entscheidet, liegt vermutlich viel weniger in den Händen der Kandidaten als der militanten Palästinenser. Jeder ermordete Israeli bedeutet unweigerlich Stimmenzuwachs für das rechtsnationale Lager.