: Der Sumpf des Grauens
Kunstlieder sind nicht jedermanns Sache. Michael Quasthoff zum Beispiel hasst sie, dabei könnte gerade er sie auch gut lieben – schließlich ist er der Bruder des Bariton-Stars Thomas Quasthoff. Woher der Hass? Schuld ist ein Kindheitserlebnis: Es war ein Samstag. Im Fernsehen lief der „Blaue Bock“
von Michael Quasthoff
Meine erste Begegnung mit dem Kunstlied hatte ich im zarten Alter von zehn. Und, um es gleich vorwegzunehmen, es war ein Schock. Genauer gesagt, war es der gefeierte lyrische Tenor und Trümmerfrauenschwarm Rudolf Schock. Ich sah ihn an einem Samstag im „Blauen Bock“.
Für die jüngeren unter uns sei angemerkt, dass es sich dabei um eine Fernsehsendung des hessischen Rundfunks handelte. Das Konzept war denkbar einfach: der Name war Programm. Kujoniert von einem zwerg-nasehaften Moderator namens Heinz Schenk, von Lia Wöhr, die alle nur „Frau Wirtin“ riefen, samt dem traurigen Komiker Reno Nonsens, welchem sich die kulturelle Ödnis der Wirtschaftswunderjahre furchentief zwischen die bernhardiner-haften Backenlappen gegraben hatte, soff sich vor laufender Kamera eine Menge Volk mit Appelwoi die Hucke voll und goutierte dabei ein Kulturprogramm, das selbst dem Führer Tränen in die Augen getrieben hätte. Vor Rührung versteht sich. Dieses Pandämonium bempelseliger Miefig-, und auch Unheimlichkeit bildete bis in die frühen Siebziger einen Grundpfeiler des zwangsunionierten Familienlebens. Man hatte es mithin im Kreise seiner Lieben ohne zu Murren auszuhalten, sonst bekam man nachfolgend die Sportschau und das Abendbrot gestrichen.
Schicksalsergeben kauerte ich also wie jeden Samstag neben meiner Großmutter in der Sofaecke, zerkaute eine Prinzenrolle, und sah mit an wie – flankiert von Schenk, „Frau Wittin“ und den schalen Witzchen des Herrn Nonsens – der Kammersänger Rudolf Schock unter großem Hallo vor das Blaue-Bock-Orchester geführt wurde, um dortselbst Schuberts “Heideröslein“ zum Vortrag zu bringen. Habe ich schon erwähnt, dass es schrecklich war? Hab‘ ich.
Nun, das ist nur die halbe Wahrheit. Rudolf Schock war bei weitem das Horribelste, was ich bis dato gehört und gesehen hatte. Und auch im Nachhinein bin ich nie wieder durch solche Sümpfe des Grauens gewatet. Denn kaum setzte Schock an, seinen Tenor auf das erste der vier präliminierenden gestrichenen Hs zu hieven, begannen dem Vortragskünstler die Züge widerwärtig zu verrutschen. Über dem klagend aufgerissenen Schlund schoben sich die Wangen zu gewaltigen von roten Adern durchzogenen Wülsten zusammen, welche wiederum in Tateinheit mit der akkordeonös gefalteten Stirnpartie die Sehorgane in die Zange nahmen und zwar dergestalt, dass sie aus den Höhlen quollen wie ein prallgefüllter Fahrradschlauch aus einem unsachgemäß repariertem Gummimantel.
Gleichzeitig nahm man an den Ohren ein epileptisches Zucken wahr, die blonden Brauen hoben und senkten sich in schwerem Seegang, so dass, weil angetrieben von derselben Muskelgruppe, auch der Haaransatz, ja die ganze Frisur auf dem Schädel herumruckte und -zuckte, als versuche ihm eine gewaltige unsichtbare Faust von rückenwärts die Kopfhaut abzuziehen. Dazu schien sich der Sänger in grotesken Schweißströmen aufzulösen, verrenkte die Extremitäten wie ein Affe und starrte in steigendem Wahn abwechselnd zum Orchesterchef und heraus aus dem Empfangsgerät in unsere gute Stube. Wie es schien, mir direkt ins Gesicht. Mich packte das blanke Entsetzen.
Doch ich schien der einzige zu sein, der bemerkte, welch unnennbare Teufelei sich hier materialisierte. Vater zog seelenruhig an seiner Pfeife, die gute Mutter stippte Bienenstich in den Tee, und meinem Bruder schien diese Karikatur eines Künstlermenschen ungeheuer großen Spaß zu machen. Nur Großmutters schwielige Hände tatterten nervös über die braunen Stützstrümpfe, als spürte diese uralte, ihre Tage gewöhnlich wie scheintot verdämmernde Frau, dass auch Rudolf Schock die Grenzen klaren Bewusstseins längst überschritten hatte. Dabei war bis jetzt noch kein einziger Ton zu hören gewesen. Doch bald würde es losgehen. Ich konnte die seinem Vortrag immanente allumfassende Boshaftigkeit mit Händen greifen.
Sie ließ nicht lange auf sich warten. Plötzlich hörte ich einen fremden schrillen Ton – langgezogen schwoll er an: ein gemeiner, nervenzerfetzender und mindestens ein ganzes Viertel unter der Orchesterbegleitung herumsägender Klang, dem nichts eigen war, was auch nur im Entferntesten an die harmonischen Weisen meiner Kindheit erinnert hätte. „Sah ein Knab‘ ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden“, krächzte Schock, wobei sein Gesicht prompt in der Farbe einer zellophanierten Pal-Mall-Packung zu leuchten begann. Was weniger der interpretatorischen Umsicht des Sängers geschuldet war, als vielmehr dem vergeblichen Versuch, die Endsilbe des Wortes „Heiden“ auf das von Schubert sicherlich nicht ohne künstlerische Hintergedanken an diese Stelle platzierte hohe G zu pressen.
Kurzum, was da eigentlich feinziseliert aus einer hochtourig getunten Kehle schwellen sollte, kumulierte im gouhlischen Geheul dieses verfluchten Mannes. Immer toller ergoß sich jetzt das Knödeln, Wimmern und Jaulen des wie von Raserei befallenen Tenors in unser Wohnzimmer, so dass ich nicht länger fähig war, zu beurteilen, ob die Laute menschlichen Ursprungs waren oder doch eher aus jener dämonischen Moderhölle drangen, von der H.P. Loftcraft behauptet hat, sie sei die Generalstabskarte des Universums.
Meine Verwandten bemerkten noch immer nichts. Zumindest schien es mir so. Wie paralysiert verfolgten sie das infernalische Wüten Schocks, obwohl nun auf dem Kaminsims die ersten Gläser barsten, während in der Küche das Familienporzellan mit fürchterlichem Getöse aus den Regalen polterte. Im gleichen Augenblick begannen die Fensterläden unter der Knute eines tobsüchtigen Sturmes, der sich unvermittelt erhob, wie irrsinnig zu rütteln, als habe eine unchristliche dunkle Macht sämtliche Elemente entfesselt, um dem satanischen Sänger zu huldigen.
Schocks Gesicht war nun endgültig zu einer heulende Fratze des Bösen geworden. „Half ihm doch kein Weh und Ach“, gurgelte er unter wilden Konvulsionen und schlug – so schnell, dass man es kaum wahrnehmen konnte – seine kariösen Hauer in den Hals des komatös im Bühnenhintergrund dräuenden Komikers Nonsens. Der erschlaffte darauf wie ein nasser Sack und ward hernach im „Blauen Bock“ nie wieder gesehen.
Dann öffnete Schock mit einem Ruck den Hosenlatz, griff sich Bock-Wirtin Lia Wöhr, um sie auf den Boden der Essener Gruga-Halle und vor den Augen des ungläubig staunenden Publikums mehrmals und nach Strich und Faden durchzuorgeln. Der ihr halbherzig beispringende Schenk wurde von dem rasenden Sänger ohne viel Federlesens in einem mannshohen Appelwoi- Bempel ertränkt.
In der Grugahalle brach Panik aus. Alles sprang auf, rannte, rempelte und trampelte durch- und übereinander, glitt aus, schlug zu und hin, glitschte durch Lachen und Pfützen, in denen sich Wein, Blut und Brezelteig zu einer schleimigen Masse verdichteten, die alsbald nicht nur den ganzen Saal, sondern auch die Mattscheibe mit eklem Grau überzogen hatte. Und über allem wütete die furchtbare Stimme des Höllentenors: „SarrrKnabRööööösschleimstehnaufheiden, Röschschleimleim aufrrrrarrrgh“
Für das ganze Ausmaß der Wirrungen kann ich mich allerdings nicht mit letzter Sicherheit verbürgen. Die Perfomance Schocks war zu viel für meine jugendzarte Seele. Überwältigt von all den offenbarten Monströsitäten, fiel ich in eine tiefe Ohnmacht.
Als ich zwei Tage später erwachte, verlor man im Familienkreis kein Wort über die Angelegenheit. Ich hingegen sprach ununterbrochen und murmelte wie im Fieber: „Das Ding darf nicht wiederkommen, das Ding darf nicht wiederkommen, das Ding darf niemals wiederkommen.“ Nachdem man sich das eine Woche lang geduldig angehört hatte, und die zahlreich konsultierte Ärzteschaft jede Hoffnung auf Besserung verneinte, verbrachte mich die Verwandtschaft nach Österreich in ein Heim im abgelegensten Teil des Stubaitals, wo ich – so hoffte man – bei karger Kost und viel frischer Luft die Krise schnell überwinden würde.
Es brauchte jedoch jahrelange Gewaltmärsche in der Gletschereinsamkeit, mehr als einen Zug aus der Obstlerflasche und letztendlich ein rostiges Tenorsaxophon und zwanzig Peter Brötzmann-Platten, um mich von den erschütternden Eindrücken im „Blauen Bock“ zu erholen. Noch heute zittern mir die Knie, wenn irgendjemand die Namen Rudolf Schock, Peter Schreier, Dietrich Fischer-Diskau oder Anneliese Rothenberger erwähnt. Für mich sind das alles Teufel in Menschengestalt.
Von meiner Familie werde ich deshalb gemieden. Und das ist vielleicht auch besser so. Mein Bruder hat die Laufbahn des Konzertsängers eingeschlagen und, wie ich höre, gerade sämtliche Schubert-Lieder für viel Geld neu eingespielt. Aus Selbsterhaltungstrieb habe ich jeden Kontakt abgebrochen.