: Mit anderen Augen
„Sommer vorm Balkon“ zeigt einen anderen Helmholtzplatz als den, den wir kennen. Er erinnert daran, dass der Prenzlauer Berg nicht nur hinzugewonnene, sondern auch verlorene Heimat ist
von UWE RADA
Nun geht er also los, der Sommer-vorm-Balkon-Tourismus am Prenzlauer Berg. Aufgeregte Cineasten, romantische Heimatsucher, neugierige Berlinbesucher – sie alle werden sich aufmachen, am Helmholtzplatz dem Sommerleben von Katrin und Nike nachzuspüren, der Kneipe, in der sie einen über den Durst heben, dem Balkon, auf dem die Nacht zum Tage wird.
„Sommer vorm Balkon“ von Andreas Dresen und Wolfgang Kohlhaase ist schließlich Großstadt- und Heimatfilm zugleich. Und selten ließ sich die kleine Heimat in der großen Stadt so konkret vermessen wie auf dem Platzviereck zwischen Raumer-, Lette-, Lychener und Dunckerstraße. Aber welchen Helmholtzplatz werden die Schaulustigen zu sehen bekommen? Und welchen „Helmi“ haben der Regisseur und sein Drehbuchautor beschrieben?
Es gibt dazu eine recht aufschlussreiche Bemerkung der Schauspielerin Nadja Uhl über den ersten Drehtag vor anderthalb Jahren: „Da kam die Ansage: Nadja, komm doch mal gleich mit dem Fahrrad von der Raumerstraße zur Schönhauser Allee zum Set. Ich fuhr im Kostüm von Nike auf dem Fahrrad durch die Gegend. Eine kesse, etwas prollige Schnitte. Das junge Szenepublikum auf der Straße übersah mich. Ich bin komplett durch dessen Raster gefallen.“
Die „prollige Schnitte“ mit Stringtanga und knalligbuntem BH und das „junge Szenepublikum“ begegnen sich aber auch nicht in der Filmhandlung. Nur einmal, wie beiläufig sieht der Zuschauer einen Mann in Schlips und Kragen durchs Bild schlendern, ein andermal schiebt eine Szenemutti im schicken Outfit ihren Kinderwagen vor sich her. Das war’s schon. Man geht sich aus dem Weg, im wahren Leben wie im Film.
Andreas Dresen und sein Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, der schon 1957 das Buch zu „Berlin – Ecke Schönhauser“ geschrieben hatte, haben aber auch keinen Film über die „Nachtgestalten“ vom Helmholtzplatz gemacht. Auch die „Alkis“ vom Platz, die manchem Anwohner seinen Sommer auf dem Balkon zur Strapaze machen, werden lediglich als Andeutung zitiert. Dann zum Beispiel, wenn Inka Friedrich alias Katrin in der Suchtklinik es verzweifelt von sich weist, eine von denen zu sein.
Es ist vielmehr das Leben dazwischen, das im Helmholtzplatzkino auf die Leinwand kommt, das Leben zwischen den sozialen Milieus, das Leben zwischen Verliebtsein und Liebeskummer, zwischen Tag und Nacht, zwischen Scheißarbeit und Absturz.
Andreas Dresen übertreibt also nicht, wenn er seinen Film einen Film übers Leben nennt. Nur ist es das Leben von denen, die wir am Helmi nicht mehr sehen und nicht mehr wahrnehmen. Das Leben, wie es einmal war, bevor der Platz zur Kneipenmeile und zum sozialen Brennpunkt wurde, zum „gespaltenen Platz“, als den ihn in den vergangenen Jahren eine ganze Generation von Stadtsoziologen und Planern beschrieben hat.
Nur in der letzten Szene des Films deuten Dresen und Kohlhaase etwas an, dass man auch als Kommentar zum Wandel des Bezirks verstehen kann. Längst hat Nike ihren Trucker alias Andreas Schmidt wieder verlassen, Katrin ist aus der Suchtklinik zurück, der Film ist nach dem netten Hinweis „und so weiter …“ fast zu Ende, da rückt plötzlich das Eckhaus Raumer-, Ecke Dunckerstraße noch mal ins Bild, der Gründerzeitkoloss mit dem Balkon von Nike und der Parterrewohnung von Katrin. Vor dem Haus steht ein Baugerüst.
Kein „und so weiter“ lautet diese Botschaft, sondern „aus und vorbei“. Die Heimat, die wir im „Sommer vorm Balkon“ vorm Balkon suchen, ruft uns Dresen in Erinnerung, ist nicht nur etwas, das man sich aneignet, sondern auch etwas, das man wieder verlieren kann – nicht selten durch Sanierung.
Nadja Uhl, die „prollige Schnitte“, hat übrigens an anderen Orten in Prenzlauer Berg eine andere Erfahrung gemacht als am Trinker- und Szene-Helmi: „Später haben wir Szenen an einer S-Bahn-Brücke gedreht“, erzählt sie. „Da standen solche Fitnessstudiotypen, die haben sich enorm über mich, über diese Nike gefreut. Man kriegt plötzlich Kontakt mit anderen Menschen, weil man selber bei denen in einer anderen Schublade liegt.“
So gesehen ist „Sommer vorm Balkon“ nicht nur der schönste Film über den Sommer, der je im Winter zu sehen war, sondern auch ein Film übers Hinschauen und unsere Wahrnehmung. Egal ob Cineast, Heimatsucher oder Berlintourist – wer diese Ballade gesehen hat, wird nicht nur auf den Helmholtzplatz mit anderen Augen schauen. Aus Prenzlberg wird wieder Prenzlauer Berg.