: Aderlass am Boulevard des Westens
PRACHTSTRASSE Ein Bildband feiert das bevorstehende 125-jährige Jubiläum des Kurfürstendamms und geht seinem Mythos nach. Das ehemalige Schaufenster des Westens hat inzwischen viel von seiner Bedeutung eingebüßt
VON NINA APIN
„Ich hab so Heimweh nach’m Kurfürstendamm, Berliner Tempo, Betrieb und Tamtam!“ So besang Hildegard Knef 1963 den Boulevard, der damals glitzerndes Herzstück von Westberlin war. 2009 ist vom einstigen Glanz der dreieinhalb Kilometer langen Prachtstraße zwischen Breitscheid- und Rathenauplatz wenig geblieben.
Der Mythos Kurfürstendamm aber lebt weiter, er hat die fortwährenden Häutungen der Metropole überdauert. Das Buch „Heimweh nach dem Kurfürstendamm. Geschichte, Gegenwart und Perspektiven des Berliner Boulevards“, entstand im Studiengang Architektur der Universität der Künste, geht diesem Mythos nach und porträtiert den Ku’damm als Spiegel Berliner Metropolenträume.
Lebensader der Großstadt
In acht Text- und zwei Fotoessays zeichnen die AutorInnen nach, wie sich aus dem kurfürstlichen Reitweg zum Jagdschloss Grunewald eine pulsierende Verkehrs- und Lebensader der Großstadt entwickelte, die seit dem Mauerfall und der Degradierung des Bahnhofs Zoo zum Regionalbahnhof unter Bedeutungsverlust leidet.
Der Bildband ist ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk an den Boulevard, der 2011 sein 125-jähriges Bestehen feiert. Mit viel historischem Detailwissen wird die Bedeutung des Kurfürstendamms als städtebauliches Leitbild, Amüsiermeile und Zentrum des Geschäfts- und Geisteslebens hervorgehoben. In Interviews kommen dem Ku’damm verbundene Menschen zu Wort, darunter ein Kunsthändler, die ehemalige Gemeindepfarrerin der Gedächtniskirche, der Wirt einer Weinstube, ein Nachkriegsmannequin und der unvermeidliche Playboy-Gastronom Rolf Eden.
Es war Reichskanzler Bismarck, der den Ausbau des Reitwegs zur breiten Prachtstraße nach dem Vorbild der Pariser Champs Élysées betrieb. 1875 wurde mit „Allerhöchster Kabinetts-Ordre“ ein fünf Meter breiter Reitweg neben der Mittellinie festgelegt und eine ebenso breite Mittelpromenade. Zu beiden Seiten säumten je 10 Meter breite Fahrdämme, 4 Meter breite Bürgersteige und 7,5 Meter breite Vorgärten den Boulevard, der bald zur feinen Wohnadresse der besseren Berliner Gesellschaft wurde. Ab 1890 entstand die typische Ku’dammarchitektur mit verspielten Prachtfassaden und riesigen Luxuswohnungen.
1890 eröffnete das Café des Westens und begründete die intellektuelle Kaffeehauskultur. Andere Cafés und Geschäfte zogen nach, 1907 wurde das Kaufhaus des Westens am Wittenbergplatz eröffnet. 1910 entstand am westlichen Halensee Europas größte Amüsiermeile „Lunapark“, wo in den 1920er-Jahren täglich bis zu 7.000 Liter Bier und 35.000 Würste verkauft wurden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte der Kurfürstendamm der „alten City“ zwischen Leipziger Straße und Unter den Linden den Rang als gesellschaftliches und kommerzielles Zentrum abgelaufen.
Am Beispiel der Adresse Kurfürstendamm 26 zeichnen die AutorInnen die wechselvolle Geschichte des Boulevards nach. 1913 eröffnet dort mit Max Reinhardts „Insel der Seligen“ die Filmbühne Wien, eins der ersten Kinos, die den späteren Ruf des Ku’damms als Kinostandort begründeten. Als „Union-Palast“ beherbergte das neoklassizistische Gebäude neben dem Kino mit 890 Plätzen auch ein Restaurant und ein Café. Die Gastronomie übernahm 1919 der slowakische Jude Karl Kutschera. Das Café Wien mit dem Zigeunerkeller wurde berühmt, 1937 musste Kutschera an Nichtjuden verkaufen. Der „Arisierung“ durch die Nazis fielen auch das KaDeWe und nahezu alle Künstlertreffpunkte, Amüsierlokale, Galerien und Auktionshäuser zum Opfer.
Mehr als 25 Prozent der Bevölkerung rund um den Kurfürstendamm waren Juden. Das Wüten der Nazis und der anschließende Krieg, so die These des Buchs, bedeutete einen Aderlass, von dem sich der Kurfürstendamm nie wieder erholen sollte. Der Wirt Kutschera kehrte 1946 an den Kurfürstendamm 26 zurück. Seine Witwe führte das Café Wien weiter. Anfang der 70er musste sie schließen, weil der touristische Massenkonsum zunehmend die kleinen Läden verdrängte. Die Mode verließ den Kurfürstendamm noch früher. Die Modeexpertin Gesa Kessemeier beschreibt, wie mit den Modellhäusern und Zwischenmeistereien der „Berliner Chic“ unterging – und damit auch der Rang Berlins als deutsches Modezentrum. Der Architekt Georg Ebbing zeigt, wie städtebauliche Leitbilder vom Metropolenboulevard, der autofreundlichen Stadt das Auf und Ab des Kurfürstendamms bestimmten. Egal welche städtebaulichen Verbrechen man an ihm beginn – der Ku’damm erneuerte sich immer wieder.
Vom Zentrum an den Rand
Der Fall der Mauer aber hat dem Boulevard des Westens ernsthaften Schaden zugefügt. Das ehemalige „Schaufenster des Westens“ rückte an den Rand der wiedervereinigten Metropole. Aus dem Zentrum wurde die City West, in der seit dem Bau des Hauptbahnhofes auch die Fernreisenden nicht mehr ankommen. Auch demonstriert wird inzwischen anderswo: Wo sich in den Zwanzigern noch SA und Kommunisten die Köpfe einschlugen und die 68er ihre Überzeugungen auf die Straße trugen, kommt heute höchstens mal ein WM-Autokorso vorbei. Der Ku’damm wird sich neu erfinden müssen, um ein Comeback als urbaner Sehnsuchtsort zu landen.
Wie, darauf weiß auch der vorliegende Band keine Antwort. Vielleicht aber Hildegard Knef: „Alles, was gut war, das kommt mal zurück, wenn darüber auch Zeit vergeht. Aus Glück wurde Pech und aus Pech wird Glück, solange sich die Welt noch dreht!“
■ Michael Zajonz u. a. (Hg.): „Heimweh nach dem Kurfürstendamm“. Michael Imhof Verlag, Berlin, 2009, 176 Seiten, 19,95 €