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Archiv-Artikel

Wir Serientäter

LEBENSENTWÜRFE Amerikanische TV-Serien sind zum Fetisch der medialisierten Mittelschicht geworden. Völlig zu Recht

Das Serienfernsehen muss aufpassen, dass es nicht eitel wird über seiner kulturellen Wirkungsmacht

VON DANIEL HAAS

Die avancierten US-amerikanischen Fernsehserien sind das Medium unserer Zeit. Inzwischen gucken so viele Menschen Serien – auf DVD oder gleich aus dem Netz heruntergeladen –, dass man sich fragen kann: Was bringt die Zuschauer, diese von Multitasking gegängelten Arbeitnehmer, dazu, ein zweites, hochkomplexes Leben vor der Mattscheibe zu führen? Warum brauchen sie diesen Stoff?

Sie brauchen ihn, weil die anspruchsvolle TV-Reihe Geschichten von Figuren erzählt, die wir selber nicht sein können, aber gerne wären. Sie bietet Helden zur Identifikation auf, die im Gegensatz zu uns handeln, die ein Ziel haben, eine Vision. Sie gibt unserem diffusen Ungenügen an den Verhältnissen eine Richtung, zeigt uns Akteure, wo wir auf dem Sofa sitzen. Und sie zeigt uns gleichzeitig die Ambivalenzen dieser Vita activa, wie sie ins Paradoxe, Absurde und Verwerfliche umschlagen kann.

Semiotisch können es diese Reihen mit jedem großen Roman des 19. Jahrhunderts aufnehmen, ja sie sind selbst das Äquivalent zu den eminenten Textarchitekturen der bürgerlichen Epoche. Riesenwerke, die über den Fortgang von sechs, sieben oder mehr Staffeln gesellschaftliche Panoramen auffächern, wie es bislang nur die epische Literatur vermochte.

Suchtmittel der Mitte

Wem das übertrieben erscheint, der schaue sich „The Wire“ an. Rund zwölf Stunden lang dauert diese Riesenerzählung, so lange, wie man ungefähr für die Lektüre eines Balzac-Romans braucht. Sie schleust neben dem Kernpersonal zahllose Figuren durch ein Szenario, das so detailreich ist wie ein Klassiker des Realismus und so ambivalent wie ein Werk der Hochmoderne. Die simplen Zurichtungen disparater Verhältnisse, das Zurschaustellen der gängigen dramaturgischen Muster mit ihrer fadenscheinigen Freund-Feind-Logik, sie kommen hier nicht zum Zug. Stattdessen: ein anspruchsvoller, die Widersprüche politischer, sozialer und kultureller Strukturen aufgreifender Text.

Das Raffinierte an Serien wie „Breaking Bad“, „Mad Men“ oder „The Wire“ ist gerade ihr dialektisches Potenzial, ihre Qualität, sowohl Eskapismus als auch Kritik, sowohl Zerstreuung als auch Durchdringung ins Bild zu setzen. Natürlich ist eine Serie wie „Dexter“, in der ein Gerichtsmediziner nach Dienstschluss all jene Verbrecher ermordet, die durch die Maschen des Gesetzes schlüpften, ein reaktionäres Projekt. Aber wenn dieser Dexter neben seiner Tätigkeit als Freizeitnemesis ein gesittetes Familienleben führt, dann werden die Widersprüche bürgerlicher Biografien auf die Spitze getrieben. Zwischen Triebverzicht und Barbarei spannt sich diese Existenz aus, und man kann sie als düstere Projektion begreifen, in der sich die Paradoxien unser eigenen Lebensverhältnisse spiegeln.

Hat diese doppelte Signatur die Serien zum Suchtmittel einer medialisierten Mittelschicht gemacht? Sind wir, die mit Ironie gegen die Zwänge der Zeit gewappneten Konsumenten, deshalb so scharf auf die nächste Etappe im Dealerdrama, auf weitere Folgen aus dem Leben von Terroristenjägern und Topärzten („House“), weil es Entertainment ist auf der Höhe unseres eigenen gespaltenen, zynischen Bewusstseins? Ja, aber diese doppelte Verfasstheit erstreckt sich bis in die Tiefengrammatik der Reihen hinein.

Die ausladende Fabulierkunst der Serien passt gerade deshalb so gut zum modernen Arbeitnehmer, weil sie ihn am neuralgischen Punkt einer Verunsicherung anspricht. Serien wie früher „Sex and the City“ (sechs Staffeln), später dann „Sopranos“ (sechs Staffeln) und „Lost“ (bislang fünf Staffeln) präsentieren einen Erzählstrom, der Kohärenz und Orientierung vermittelt. Mit ihren schnellen, elliptisch-scharfen Dialogen, den cinematografischen, mythologischen und historischen Referenzen kommen sie einerseits unserer beschleunigten Wahrnehmung entgegen, andererseits entwickeln sie ihre Figuren langsam und akribisch über große Storybögen hinweg.

In eine Serie wie „Weeds“, die das Leben einer alleinerziehenden Mutter ausmalt, die hinter den Kulissen des Vorstadtidylls einen Haschgroßhandel betreibt, kann man nicht einfach mal hereinschalten; die Erzählung ist viel zu voraussetzungsreich für den beiläufigen Konsum. Das aber ist gerade der Clou: Die Reihen sind selbstreflexiv, das heißt, sie konstruieren einen Begriff von Selbst, oder in Richard Sennetts Worten, sie formen einen Charakter zu einer „durchhaltbaren Erzählung“.

Und genau das ist es, was sich der moderne Arbeitnehmer, sosehr er auch die Flexibilisierungs- und Optimierungsgebote des beschleunigten Markts als Chance zu verstehen bereit ist, im Geheimen wünscht: die Kontinuität eines Lebensentwurfs, das Zielbewusstsein einer Arbeitsbiografie. Ständig steht, wenigstens gefühlt, alles zur Disposition: der Wohnort, die soziale Stellung, die emotionalen Bindungen. Das Medium funktioniert in dieser Perspektive weniger als Mittel der Zerstreuung denn als Ort der Rückerstattung: von Orientierung und Konstanz.

Dabei muss die Semantik gar nicht beschwichtigend sein, im Gegenteil: Gerade die erfolgreichsten Serien präsentieren den neoliberalen Typus, der sich mit den Härten der kapitalistischen Praxis, wenn nicht aussöhnt, so doch bestens zurande kommt. Vic Mackey, der Held der Polizeiserie „The Shield“, ist ein Brutalo, der in L. A. die Verteilungskämpfe der Drogengangs zum eigenen Vorteil nutzt. Patty Hewes, die von Glenn Close gespielte Protagonistin der Anwaltsserie „Damages“, hat den Charme von Lady Macbeth, gekreuzt mit Machiavelli. Grundsätzlich ist bei diesen Soziopathen die Gemeinheit ans berufliche Können gekoppelt. Das spricht den Zuschauer an – oder wen hätte in Anbetracht des verschärften Wettbewerbs noch nicht das Gefühl beschlichen, dass berufliches Können manchmal nur um den Preis der Verrohung zu haben ist?

Es geht bei den neuen Serien also nicht um ein mediales Trostpflästerchen, mit dem man die real erlittenen Blessuren im Wirtschaftsleben dekorieren kann. Es geht für den Arbeitnehmer, der womöglich alle drei Jahre die Stelle wechselt, um eine Erzählmatrize, ein Muster, anhand dessen sich Identitäten formen.

„Das Narrative heilt durch Struktur, nicht durch die Vermittlung direkter Ratschläge“, schreibt Richard Sennett. Deshalb können wir die Korruptheit der Luxuskids in „Gossip Girl“, den Narzissmus der Filmstars in „Entourage“ oder die romantische Verbohrtheit der „Grey’s Anatomy“-Ärzte genießen. Nicht weil sie etwas Bestimmtes tun, sondern weil sie es immer wieder tun, mit geringfügigen Variationen, so, dass dieser faszinierende mimetische Effekt entsteht: Der Roman im Fernsehen strahlt ab auf meine Lebenserzählung, die porös geworden ist, fragmentarisch und prekär.

Keine Mittel der Zerstreuung, sondern Orte der Rückerstattung: von Orientierung und Konstanz

Alles Wiederholungstäter

Es immer wieder tun: dieses Muster schließt die Serie kurz mit der Logik der Sucht und unserer Wirtschaftsform. Ich kann nicht aufhören: das sagen der Süchtige und der Kapitalist. Denn Konsumtion und Produktion müssen immer weitergehen. Und wenn es schiefgeht, folgt eine Finanzkrise, kurz tritt der Staat als Therapeut auf, und dann geht alles von vorne los.

Konsequent ist, dass zahlreiche Serien das Thema Sucht selbst aufgreifen. In „The Cleaner“ ist die Hauptfigur ein Exjunkie, der anderen zur Abstinenz verhilft. Und Jack Bauer, der Terrorbekämpfer, nimmt eine Zeit lang nicht nur Heroin. Er verkörpert den manischen Wiederholungstäter, der nicht aufhören kann, die Welt zu retten. Und er braucht dabei immer mehr: mehr Lügen, mehr Gewalt, mehr Folter. Und wir brauchen sie mit ihm. Wir sind Serientäter wie die von uns verehrten Helden.

Aber das Serienfernsehen muss aufpassen, dass es nicht eitel wird über seiner kulturellen Wirkungsmacht und seinen wirtschaftlichen Erfolgen. Was passiert, wenn Medien in ihrer eigenen Form erstarren, sieht man am Genrekino. Es ist mit seiner exzessiven Schauwertästhetik in die künstlerische Sackgasse geraten. Jetzt sucht es sinnigerweise seine Rettung in der Serialität, will quasi Fernsehen werden. Ice Age 3, Spiderman 4, Harry Potter 5.

Das TV leistet sich dagegen gerade eine Serie, die das Konzept der Identifikation dekonstruiert und gleichzeitig zelebriert. In „United States of Tara“ hat die Heldin eine multiple Persönlichkeit: Mal ist sie Mutter und Malerin, dann vulgäre Teenagerin, dann ein männlicher (!), waffenvernarrter Redneck, schließlich eine Matrone im 50er-Jahre-Stil. Hauptdarstellerin Toni Collette erhielt letztes Jahr einen Emmy. Aber haben die Auszeichnung nicht eigentlich wir, die Zuschauer, verdient? So versiert sind wir in der Rezeption raffinierter Geschichten, so souverän in unserer Hingabe an die mediale Suggestion, dass wir die Zwangslagen unserer Helden als erweiterten Spielraum der eigenen Träume begreifen.

Der Autor ist Kulturredakteur bei Spiegel Online