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Archiv-Artikel

Notizen eines Disco-Verrückten

HOUSE-MUSIK Balihu – zwischen Demokratie und Anarchie. Die Geschichte eines Labels

Wang & Balihu

■ Taiwan: Daniel Wang, geb. 1969 in San Francisco, USA. Aufgewachsen in Taipeh, Taiwan. 1992 Rückkehr in die USA.

■ USA: Das House-Label Balihu gründet Wang 1995 in Chicago, dann Umzug nach New York. Auf Balihu veröffentlichen heute unter anderem Brennan Green und Carsten Meyer (Erobique).

■ Berlin: Seit 2003 lebt Wang in Berlin und legt als DJ regelmäßig im Berghain, Schwuz und Möbel Olfe auf.

VON DANIEL WANG

1983 habe ich illegale Diskotheken in Taipeh besucht, und 1988 habe ich angefangen, Kassetten für Housepartys von schwulen Studenten aufzunehmen. Damals war es noch keine Selbstverständlichkeit, dass man „eine Platte draußen haben“ musste, um als DJ gebucht zu werden. War mein Lieblings-DJ 1990 ein „Produzent“? Vermutlich nicht. Dagegen war Lil’ Louis schon mit seinem Stück „French Kiss“ bekannt geworden, als er 1991 in San Francisco ein DJ-Set hinlegte und einige von uns hingingen. Dorthin war ich nach meinem College-Abschluss gezogen und teilte mir im Schwulenviertel Castro eine Wohnung mit einem netten Typen namens Aaron Olivares. Er besaß ein Video des Dokumentarfilms „UK Dance Now“, in dem der afroamerikanische House DJ Tony Humphries und der Club Zanzibar in New Jersey eine Rolle spielten und auf dessen Soundtrack „Luv Dancin“ von Underground Solution und „The Flower“ von Tony Varnado zu hören waren. Aaron und ich gingen an Sonntagen in den Endup-Club – in San Francisco gehörte das für Schwule, Rave Kids und andere Leute, die auf Drogen waren, zum Ritual.

Aaron war auch der Erste, der mir die 12-Inch von „Is It All Over My Face“ von Loose Joints vorspielte. Vermutlich fand ich damals raus, dass es irgendwo in New York eine ganze Reihe DJs gab, die solche alten Disco-Platten sampelten und stundenlang die tollste Musik auflegten.

Um die Uni zu beenden, zog ich nach Chicago, nutzte aber jede Gelegenheit, bei New Yorker Underground-Dance-Events mit dabei zu sein. Um zu erfahren, wie die Platten entstanden waren, die dort gespielt wurden, rief ich einfach direkt bei Produzenten wie Roger Sanchez an. Ich fahre also 1992 mit der U-Bahn nach Queens und betrete ein riesiges Backsteingebäude, in dem Roger Sanchez in einer nahezu leeren Wohnung nur mit einem Regal voller Synthesizer und einem 32-Spur-Mischpult lebt. Ich frage ihn: „Wie bist du auf so ein unglaubliches Stück wie ‚Luv Dancin‘ gekommen?“

Einige Zeit später, nachdem ich viele Stunden an meinem Synthesizer gesessen hatte, rief ich ihn aus Chicago an. Da ich keine Ahnung hatte, was es hieß, „mit einem Mehrspurgerät aufzunehmen“ oder „die endgültige Fassung abzumischen und zu mastern“, bot ich an, ihm die Akai-Diskette und die Korg-01W-Sequenz zu schicken, die er dann in seinem Studio als MIDI-Datei einlesen und rekonstruieren konnte – so dachte ich zumindest. Doch von Mr. Sanchez kam nie eine Antwort! Schließlich mietete ich für einen Nachmittag ein kleines Studio, nahm alle fünf Tracks auf und benutzte meine Kreditkarte, um Balihu 001 pressen zu lassen.

Inzwischen hatte auch ich das komische Gefühl überwunden, der einzige Chinese in einer Gay-Disco voller Afroamerikaner zu sein; schließlich konnten ja alle sehen, dass ich genauso schwul war wie sie und beim Tanzen den gleichen Spaß hatte. 1994 zog ich von Chicago ins New Yorker East Village. Danny Krivit, der wahre Erfinder des Disco-Bootlegs, schenkte mir einen Mitgliedsausweis für die Sound Factory Bar, wo ich stundenlang mit Muhammed Ultra Omni das Vogueing übte – genau darum geht es in den Philly-Samples und den Widmungen auf Balihu 003, 004 und 005. Muhammed war die Verkörperung des Streetdance. Er ist auch derjenige, der in dem Dokumentarfilm „How Do I Look?“ die Philosophie des Nubian Vogueing erklärt.)

Synthesizer und Eurodisco

Um 1996 herum trat mein japanischer Freund Hiroki „Tee“ seinen Job im Dr. Sound Music Store an mich ab, und damit begann Balihus fünfjährige Weiterbildung in Sachen Synthesizer und Musikgeschichte. Das war auch dringend nötig, denn zu jener Zeit fanden die wahren Underground-House-Partys in New York nicht mehr statt.

Tatsächlich kam mir die „gay/tribal“-House-Szene ziemlich scheinheilig vor. Damit meine ich, dass die „Chelsea Gays“ (die irgendwann das „Body and Soul“ übernahmen) beizeiten eine ziemlich berechenbare politische Gruppe sein können. Ihre Musik basierte auf dem Prinzip: „Wer die Macht hat, ist im Recht.“ Meine Drag-Queen-Freundin London Broil sagte voller Ironie, dass die Musik „den Kindern Gehorsam einprügeln“ würde. Meiner Meinung nach sollten Bass sowie Arrangement und nicht nur die Bassdrum den Groove tragen. Balihu brachte nie eine Platte raus, die sich mit einem fetten, polternden Beat behaupten wollte.

Balihu war ursprünglich als Soloprojekt entstanden. Als ich sah, dass der kanadische Expat Brennan Green und Carlos Hernandez, mit dem ich bei Dr. Sound zusammengearbeitet hatte, auf ihren Instrumenten wesentlich geschickter jammen konnten als ich (meine Stärken sind das Programmieren und Editieren), dachte ich, Balihu könnte ihnen eine interessante Plattform bieten. Es schien ein logischer Schritt, auch andere Künstler zu veröffentlichen. Balihu war mein Klassenzimmer, und ich lernte dort, dass selbst Kleinstauflagen meine Arbeitsweise vollständig verändern können.

Die Generation D.I.Y.

Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob Balihu an seine eigenen Disco-Ideale rankommt. Tatsächlich höre ich mir meine eigenen Tracks selten an und lege sie bei meinen DJ-Sets nie auf. Ein Satz aus einem Musiklehrbuch blieb mir früh im Gedächtnis haften – „Der Großteil der Popmusik baut auf einer kleinen Anzahl von Molltonarten auf.“ Auf vielen Platten von Balihu überwiegt eine melancholische Stimmung, weil übermäßig viele Mollakkorde und einige Septimen benutzt wurden, um sie zum „Strahlen“ zu bringen.

Heute weiß ich, dass man emotional begreifen muss, was die Akkordwechsel eigentlich ausdrücken, um sie richtig einzusetzen. Bei meinen DJ-Sets habe ich naiverweise immer die Platten bevorzugt, die zwischen Moll- und Dur-Tonarten wechselten (Voyage, Kat Mandu, Cerrone etc.); eine Menge Leute sehen darin die „billige Seite“ von Disco-Stücken. Doch dann zeigte mir ein Freund den Unterschied zwischen Songs, die nur auf einem sich wiederholenden Groove aufbauen, und Songs, die auf einer vollständigen, zyklischen Struktur gründen.

Das Seltsame an der Welt der Dance-Musik ist ihre Unberechenbarkeit. Wer 1977 kein ausgebildeter Musiker war, durfte ein Studio gar nicht erst betreten. Mit Einführung der MIDI-Technik und Aufnahme-Software hat sich alles verändert – ohne diese Technologien würde es auch mein Label nicht geben. Musik zu machen hängt nun nicht mehr von guten Ideen oder echtem Können ab – wir bewegen uns heute irgendwo zwischen Demokratie und völliger Anarchie.

Ich bekomme einen stetigen Strom von Demo-Aufnahmen zugesandt – jeder kann heute einen Track mit nahezu makellosem Sound produzieren. Wie ein besorgter Onkel antworte ich oft auf Demotapes per E-Mail: „Dein Sound ist technisch perfekt – aber wo bleiben Ausdruck und Originalität?“

Trotzdem bin ich froh, dass die Leute Balihu immer noch als ein Label sehen, in das sie ihre Hoffnungen setzen können. Gleichzeitig frage ich mich aber, ob sie den Unterschied zwischen meinen rauen ersten Gehversuchen und ihren glatten neuen Tracks erkennen? Ich hoffe, dass meine Beobachtung nicht zynisch klingt: Anstatt ein Medium für verschiedene musikalische Vorlieben zu sein, ist die Schallplatte zu einer Visitenkarte für DJs mutiert, die Originalität unbedingt vermeiden will.

Dabei war es gerade umgekehrt: erst dieses anarchische D.I.Y.-Prinzip der Post-1990er-Jahre hat der Musik auf Balihu zu Aufmerksamkeit verholfen. Die meistverkaufte Balihu-Single ist immer noch die erste – sie besteht aus einigen skurrilen Samples, einer verstimmten monotonen Streicherlinie, einem Break mit MIDI-Timbales, die mit einem einzigen Finger (wenn auch sehr schwungvoll) angeschlagen werden, und einem Text, der zusammenfasst, worum es bei „Disco“ geht. „Like some dream I can’t stop dreaming, I can’t stop moving to the sound“.

Selbst 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung glaube ich immer noch, dass die Stärke dieser Single in ihrer Andersartigkeit liegt. Balihu ist eher ein persönliches Tagebuch als ein Plattenlabel. Wo professionell geführte Labels neue Künstler auftun und ihre Alben promoten, wirkt Balihu als eine Art „Fanzine auf Vinyl“, das in die „richtige Richtung“ (knallharte Disco-Musik!) weist, aber dort nur selten wirklich ankommt.

Eindeutig idealistisch

Ich finde nicht, dass Balihu-Musik unbedingt weiter auf Vinyl erscheinen muss – CDs sind in Ordnung, solange die Musik etwas zu sagen hat. Vermutlich bin ich im Herzen ein Lehrer (genau genommen „Mr. G“ aus der australischen Fernsehserie „Summer Heights High“), und vertrete die Überzeugung, dass ein Großteil der kommerziellen Popmusik die Kinder verblöden lässt – vor allem die Kinder der Immigranten in den Großstädten. Sie sollten lieber Gitarre oder Saxofon lernen, stattdessen verkauft ihnen MTV aggressive Rap-Musik.

Nach all den Jahren sehe ich Balihu und meine eigene DJ-Karriere mit anderen Augen: als eine winzige Erklärung der eigenen Individualität, des eigenen Schwulseins oder was auch immer. Kommerzialisierung hat so vieles in der Popkultur abstumpfen lassen. Von den Medien lernen junge Leute, dass es nur darauf ankommt, Gucci-Taschen zu besitzen, geile Körper zu haben, nie zu schwitzen und unzählige Digitalfotos von sich zu machen. Den Gegensatz dazu bilden – zumindest theoretisch – schwule Bären, handgeschriebene Plattenlabel, musikalische Selbstbeobachtung, Bands wie Hercules & Love Affair und Dark Rooms, in denen Sound und Feeling wichtiger sind als Äußerlichkeiten. Als ich anfing, wusste ich das noch nicht. Aber ich bin froh, dass ich es rausgefunden habe und laut aussprechen kann.

■ Gekürzte Fassung der Linernotes aus dem Album „Daniel Wang presents Balihu 1993–2008“. Aus dem Englischen von Harriet Fricke