: Friede, Freude, Kabinettsklausur
Die Regierung regiert – dafür will sich die große Koalition in Genshagen feiern lassen. Sie erklärt ihre „Politik der kleinen Schritte“ zur Kulturrevolution
AUS BERLIN JENS KÖNIG
Wenn Parteien und Regierungen in Deutschland nachdenken, gehen sie gern in Klausur. Das nennen sie dann Klausurtagung. Den Zweck dieser meist zweitägigen Veranstaltungen umschreiben sie gern mit dem Hinweis, sie wollten einmal in aller Ruhe und fernab des Medienbetriebs die Grundlagen ihrer Politik diskutieren. Die nahe liegende Frage, was sie denn eigentlich den Rest des Jahres machen, wenn sie mal nicht nachdenken und die Grundlagen ihrer Politik diskutieren, nehmen sie dabei offenbar billigend in Kauf.
Jetzt droht Deutschland die erste Klausur der ersten großen Koalition der Neuzeit. Von Montag bis Dienstag trifft sich das gesamte Kabinett samt Partei- und Fraktionschefs von CDU und SPD auf dem preußischen Schloss Genshagen bei Berlin, und alle Interessenten von Klausurtagungspolitik seien vorgewarnt: Die Politik bleibt ganz die alte. Grundsätzlich und in aller Ruhe nachgedacht wird in diesen zwei Tagen wenig.
Kanzleramtsminister Thomas de Maizière, der mit der Vorbereitung der Tagung beauftragt war, hatte sich ursprünglich zwar ein intensives Arbeitstreffen fernab des Berliner Presserummels gewünscht. Aber auch er musste sich irgendwann dem ersten politischen Gesetz beugen. Was ist schließlich die klügste Klausurtagung wert, wenn sie keine mediale Botschaft in sich trägt? Eben. Und so wird neben dem Schloss jetzt doch ein Pressezelt aufgebaut, auf dass die frohe Botschaft von Genshagen ohne Zeitverlust quer durch Deutschland gesendet werden kann: Die Regierung regiert. Solide, unaufgeregt, harmonisch. Diese Selbstverständlichkeit hat in Deutschland ja mittlerweile das Zeug zur Kulturrevolution.
Die allgemeine Zuversicht will die große Koalition in Genshagen durch die Verkündung eines großzügigen Investitionsprogramms am Leben erhalten. Mindestens 25 Milliarden Euro in den kommenden vier Jahren werden den Bürgern unter anderem für Verbesserungen der Familienpolitik, für neue Verkehrsprojekte sowie für die Erhöhung des Bildungsetats versprochen (Text unten).
Dieses verspätete Weihnachtsgeschenk ist noch das Konkreteste, was die Klausurexperten zu bieten haben. Ansonsten bereitet sich die große Koalition schon mal geistig auf die deutsche EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 vor. Der dritte Schwerpunkt der Klausur ist die zweifellos schwierigste Übung: Es soll unter allen Umständen vermieden werden, dass die diversen Konflikte zwischen den Koalitionspartnern offen ausbrechen. Die nach wie vor unvereinbaren Gesundheitskonzepte von CDU (Kopfpauschale) und SPD (Bürgerversicherung), der unüberhörbare Wunsch der Union, den rot-grünen Atomkonsens aufzukündigen, das Mantra von Innenminister Wolfgang Schäuble, die Bundeswehr im Innern einzusetzen, der Streit vom Jahresanfang über den Kombilohn – über all das soll nicht gesprochen werden. „Strittige Themen werden nicht vertieft“, heißt es dazu in der Vorgabe des Kanzleramtes.
Stattdessen will Merkel versuchen, über die Diskussion von Zeitplänen und die Besetzung von Arbeitsgruppen die zwei wichtigsten Projekte des Jahres 2006 politisch steuerbar zu machen: die Gesundheitsreform und die Reform der Arbeitsmarktpolitik. An der Frage, ob es eine Gesundheitsreform bereits zum 1. Januar 2007 oder doch erst später geben soll, hängt der Handlungsdruck auf die Koalitionsparteien, die sich vor den drei wichtigen Landtagswahlen am 26. März 2006 (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt) bei diesem schwierigen Thema eigentlich nicht über den Haufen debattieren wollen. Und beim Kombilohn soll eine Arbeitsgruppe unter Leitung der Fraktionschefs Volker Kauder (Union) und Peter Struck (SPD) den Konflikt innerhalb der Koalition erst einmal auf die lange Bank schieben.
Merkel und ihre Regierung wollen bloß keine übertriebenen Erwartungen wecken. „Bei den kleinen Schritten hat man mehr Trittsicherheit, bei den größeren möglicherweise mehr Geschwindigkeit. Dafür läuft man Gefahr, eine ganz falsche Richtung einzuschlagen.“ So rechtfertigt die Kanzlerin im aktuellen Spiegel-Interview ihre Politik und fügt hinzu: „Wichtig ist doch nicht die Schrittlänge, sondern dass das Ziel klar ist.“
Klingt gut. Aber was ist das Ziel? Das wäre fast eine Klausurtagung wert.