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Archiv-Artikel

Der Wirt, der Gäste nicht mochte

Gaetano Scognamiglio träumte stets vom eigenen Restaurant. Als er es hatte, gingen ihm die Gäste auf die Nerven. Deshalb blieb er der kauzige Typ im Copyshop in der Bergmannstraße. Ein Nachruf

von HANS W. KORFMANN

Wenn die ungarische Zahnärztin das Telefon in die Hand nimmt, dann spricht sie kein Wort zu viel, nennt kurz ihren Namen, „Sigora“, wobei das warme „R“ etwas Donnerndes und Drohendes bekommt. Sie veranlasst in wenigen Sekunden eine Einweisung zum Kiefernorthopäden oder eine Extraktion und wirkt so streng wie Gouvernanten aus dem 19. Jahrhundert. Aber jetzt sitzt sie da in der „Enoteca Bacco“ vor ihrem Kaffee, und es rollen ihr die Tränen über die Backen – vor Lachen. Sie erinnert sich an Gaetano Scognamiglio, erzählt, wie er sein Lokal in der Kurfürstenstraße eröffnete, das „Mistral“. „Am Abend vor der Eröffnung rief er mich an und sagte: Madame, könnten Sie mir vielleicht behilflich sein und noch ein bisschen aufräumen helfen?“

Er sagte immer Madame zu Madame Sigora, seit sie das erste Mal in seinen Mund blickte, im Sommer 1979. Und er sprach sie während der 35-jährigen Bekanntschaft immer mit einem höflichen „Sie“ an. „Madame, meine französische Eleganz verbietet mir, Ihnen das Du anzubieten.“ Frau Sigora muss sich die Tränen von der Wange wischen und nach Luft schnappen, um zu erzählen, wie der Wirt Scognamiglio mit dem Handtuch über der Schulter an den Tisch seiner Gäste trat und sich über deren Tischsitten beschwerte. „Das Lokal war eine einzige Katastrophe. Andere Wirte freuen sich, wenn sie Gäste haben, aber Scognamiglio war jedes Mal froh, wenn sie wieder draußen waren.“

Das war auch im Copyshop in der Bergmannstraße nicht anders. Er raufte sich die Haare, wenn jemand hereinkam – falls er eine Hand frei hatte. Meistens aber stand er da mit einer Kelle voll frischem Mörtel in der rechten Hand und dem Telefonhörer in der linken und erklärte gerade irgendjemandem am andern Ende der langen Leitung, dass es einen eklatanten Unterschied gebe zwischen Dromedaren und Kamelen. Wenn er dann den Kunden in der Tür wahrnahm, überlegte er, ob er zuerst die Kelle an die Wand, den Hörer auf die Gabel oder den Kunden einfach wieder rausschmeißen sollte. Und sah einen Moment lang so aus wie sein berühmter Landsmann Louis de Funès.

Aber keiner lachte. „Denn das ist keine Komödie, das ist eine Tragödie hier in diesem Copyshop!“, sagte Scognamiglio. Deutsche könnten sowieso nie lachen. „Les allemands sont commes impermeables …“ – wie Regenjacken sind die Deutschen: „Da geht nichts durch.“ Gaetano Scognamiglio liebte diese Sprüche, und er hasste die Deutschen. Schließlich war er Franzose. „Die Deutschen reden zu wenig. Das liegt am Wetter. Keine Sonne. Das schlägt aufs Gemüt.“

Deshalb dachte er oft an Afrika, wollte immer schon auswandern. Aber er kam nur bis Berlin. Wegen der glänzenden Uniformen, in denen sich die deutschen Soldaten präsentierten, damals, in den Zeitungen und in den Filmen, die er als Kind sah. Die hatten ihn fasziniert. Vielleicht, weil er in der Gosse groß geworden war. Da glänzten Uniformen besonders.

Ein Leben voller Arbeit

Irgendwie stand sein Leben unter keinem guten Stern: Der Vater litt an Parkinson und starb früh, die Mutter hatte man in eine psychiatrische Anstalt gesteckt. Sie musste während des Krieges in Österreich Handgranaten zusammenbauen. Bis plötzlich Bomben auf die Munitionsfabrik fielen. „Es muss schlimm gewesen sein.“ Man besuchte sie nur selten, obwohl die Anstalt nicht weit entfernt war von Nizza. Wozu auch: Sie erkannte ja niemanden mehr.

Scognamiglios Leben war viel Arbeit. 65 Stunden die Woche stand er im Copyshop in der Bergmannstraße, dabei war er fast sechzig. „Ein ganzes Leben lang nur Arbeit.“ Es begann, als er dreizehn war. Um halb drei Uhr in der Nacht. Um diese Zeit musste er das Kinderheim verlassen, um rechtzeitig in der Konditorei zu sein. Der Chef war nie zufrieden, immer am Meckern. Schlimmer als er selbst. Dann arbeitete er an der Tankstelle, und mit achtzehn war er Liftboy. Immerhin, er hatte ein schönes Zimmer, gutes Essen, Lohn und Trinkgeld. Und stand ganz knapp daneben. Neben dem Leben – der Reichen und Schönen von Nizza.

Ein warmer Wind, sagte er, hätte ihn irgendwann nach Berlin geblasen. Ein Furz sozusagen. Zuerst arbeitete er auch hier im Hotel, dann in einem Copyshop, dann Nachtschichten bei Agfa, „was weiß ich wo“. Und sparte. Bis er sich eines Tages einen alten Traum erfüllen konnte und sein eigenes Restaurant eröffnete: „Le Mistral“. Aber dann zündete Chirac im Herbst 1995 einige Atombomben, und die wackeren Deutschen verschmähten plötzlich den französischen Camembert, die französische Salami und sogar den französischen Wein. Sie besprühten die frisch verputzten Wände des kleinen Lokals in Schöneberg mit Parolen.

Gaetano Scognamiglio hatte alles auf eine Karte gesetzt und nichts mehr in der Hinterhand. Also verkaufte er die Einrichtung, das Kochgeschirr, das Besteck, doch am Ende blieben vom Traum nur Schulden. Und er stellte sich wieder in den Copyshop. „Wissen Sie, was das heißt“, sagte er, „65 Stunden in der Woche, und Sie wissen nicht, wofür? Und dann kommen die Kunden, machen fünf Kopien und wollen noch Mengenrabatt. Manchmal denke ich, ich bin in Arabien.“

Gaetano Scognamiglio liebte das Drama. Er war immer in Eile, lag unter den Maschinen wie ein Automechaniker, schrieb gewaltige Zahlenkolonnen in dicke Bücher, stöhnte, wenn das Telefon klingelte, schrie wegen fehlenden Wechselgeldes bei jedem kleinen Geldschein auf, als handelte es sich um Tausender, und kümmerte sich ansonsten mit allem noch zur Verfügung stehenden Charme um die weibliche Kundschaft.

Er sah aus, als habe er immer schlechte Laune, aber heimlich schmunzelte er. Wenn im Winter die Leute bei ihm die Treppen ins Souterrain herunterrutschten und dann breitbeinig auf dem Boden saßen, dann sagte er: „Ich hoffe, Sie haben sich nicht wehgetan.“ Um sofort wieder zu seiner Maschine zu stürzen. Wie Louis de Funès eben.

Es gab auch Deutsche, die er mochte. Die alte Dame zum Beispiel, an die achtzig, die jede Woche die schmalen Stufen herunterkam, obwohl die Beine nicht mehr so recht wollten. Sie kopierte Witze aus den Zeitungen für ihr Kaffeekränzchen. Oder die Studentin, der es gefiel, wenn er das „L“ in Mademoiselle so genüsslich über die Zunge rollen ließ.

Sein Copyshop war poesielos: keine Bilder, keine Topfpflanzen. Ein einziges Foto hing hinter ihm an der Wand. Schwarzweiß, mit einem Namenszug darunter: Gerard Depardieu. „Das ist mein Freund“, sagte er, „der schickt mir immer Geld, wenn ich die Steuern nicht mehr zahlen kann“. Er hatte den Schauspieler einmal getroffen, in einem Lampengeschäft. Eine halbe Stunde lang hatten sie sich unterhalten. „Franzosen reden eben miteinander. Und schließlich hatten wir den gleichen Weg: Nizza, Paris, Berlin. Das verbindet.“ Scognamiglio zwinkerte.

Die Fotografie zeigte nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Leben Scognamiglios. Aber sie warf Licht bis ins Souterrain der Bergmannstraße. Sie war einer der Lichtblicke in seinem Leben. Sie glänzte wie die Uniformen und die Sternchen, die einmal greifbar nahe waren, dem Kind und auch später dem jungen Mann. Geboren in Cannes, 1947, ein paar hundert Meter von jenem berühmten Kino entfernt. In jenem Jahr, als zum ersten Mal die Sterne des Zelluloidhimmels über der Stadt aufgingen.

Liftboy in Nizza

Vielleicht stand er deshalb in Nizza als Liftboy neben dem Fahrstuhl, begleitete die Stars nach oben. In den großen Fünf-Sterne-Hotels, im Westminster und im Negresco. An der Promenade des Anglais. Da war er ganz nah dran. Da hat er auch Louis de Funès kennen gelernt, „eine ganz unangenehme Person“. Und Romy Schneider. Die war ihm sympathisch. Sie haben vor dem Fahrstuhl gestanden und miteinander gesprochen. Er, der Liftboy, und sie, Romy Schneider. Hörte ihm zu. Blieb, als sie längst oben angelangt waren, neben ihm stehen und hörte ihm zu. Eine Ewigkeit.

Im Copyhop standen Maschinen neben ihm. Manchmal empfand er Heimweh. Erinnerte sich. Aber Erinnerungen waren nur Kopien der Wirklichkeit. „Das weiß man, nach so vielen Jahren im Copyshop.“ Manchmal dachte Gaetano Scognamiglio an die Zukunft. Zuletzt an eine kleine Croissanterie irgendwo in Kreuzberg. Und an ein Haus an der wilden Küste Marokkos. Afrikas. Immer noch. Aber auch Neapel hatte er sich vorstellen können. Nur Nizza, nein, das war ihm zu viel Glitzer. „Das blendet einen, wissen Sie. Das ist nicht meine Welt.“

So war er. Seine Zahnärztin weiß so viel zu erzählen von ihm. Und immer wieder muss sie lachen. Nur am Schluss ihrer Erzählungen sieht sie ein bisschen traurig aus. Sie mochte ihn. Und er mochte sie. Es reichte ihm ja schon, wenn jemand kein Deutscher war. So jemand war ihm gleich sympathisch. Als die Zahnärztin von seinem plötzlichen Tod vor dem Fernseher erfährt, greift sie zum Telefon und ruft bei der Polizei, auf dem Gesundheitsamt, auf dem Sozialamt an. „Sigora“, sagt sie, mit der Betonung auf der ersten Silbe und dem knorrigen „R“, „Sigora hier. Sagen Sie, wo ist jetzt eigentlich dieser Scognamiglio?“

Sie lässt sich nicht abwimmeln, bis sie ihn endlich gefunden hat, in Pankow, irgendwo ganz am Rand der Stadt. Als man ihr sagt, dass sie Glück habe, dass er noch hier und nicht längst unter der Erde sei, „weil die Papiere aus Frankreich so lange dauerten“, und dass er anonym begraben werde, weil er ja kein Geld gehabt habe, da erhebt sie Einspruch. Erteilt ihre Anweisungen. Nimmt alle Kosten auf sich. „Ich habe ihn im letzten Moment aus dem Kühlhaus gerettet.“

Und dann geht sie in die Copyshops, in denen er gearbeitet hat, in denen man sich noch an ihn erinnert, diesen Schauspieler, diesen Komiker, diesen Dramatiker, und hinterlässt ihre Telefonnummer und ihren Namen. Sigora. Ganz kurz. Und trommelt Freunde zusammen. Freunde, die er eigentlich nie hatte. Die meisten waren so etwas wie heimliche Fans. Sie hörten immer nur zu. Einige von ihnen werden da sein, morgen um 12 Uhr, wenn man die Urne auf dem Waldfriedhof beisetzen wird. „Da, wo all die andern Prominenten auch liegen“, sagt die Zahnärztin Sigora. Und lächelt wieder ein bisschen.