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Archiv-Artikel

„Wo sind all die Mädchen geblieben?“

Auch in China wollen viele das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes erfahren. Gerade die Armen sind im Dilemma

PEKING taz ■ Ultraschallgeräte kosten in China rund 10.000 Yuan, umgerechnet 1.000 Euro. Wer mit ihnen umgehen lernen will, braucht dazu drei bis sechs Monate. Aber es lohnt sich. Selbst ärmste chinesische Familien sind bereit, durchschnittlich 40 Euro für die Ultraschalluntersuchung einer werdenden Mutter zu zahlen, um rechtzeitig das Geschlecht des Kindes zu erfahren. Damit sie, wenn es ein Mädchen wird, aus vielen Gründen eine Abtreibung erwägen können.

Kein Wunder also, wenn in China das Geschäft mit Ultraschalluntersuchungen und anschließender Abtreibung von weiblichen Föten blüht. Auf bis zu 750.000 wird ihre Zahl pro Jahr geschätzt. Schon spricht der Familienplanungsexperte Gu Baochang von dem chinesischen als dem „größten, höchsten und längsten“ Geschlechterungleichgewicht der Welt.

„Wo sind all die Mädchen geblieben“?, fragt die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Die Antwort der Statistiken ist ernüchternd. Noch in der 60er- und 70er-Jahren, als China auf maoistische Art rückständig war, gebaren chinesischen Frauen fast so viel Mädchen wie Jungen. China lag innerhalb der internationalen Norm von 1.030–1.070 Jungen pro 1.000 Mädchen. Erst mit dem kapitalistischen Fortschritt holte China die Vergangenheit wieder ein. Denn der Fortschritt brachte nicht nur das Ultraschallgerät, sondern auch die Ein-Kind-Politik. Weniger Chinesen würden schneller reich werden – mit dieser Idee wurde die zügellose Bevölkerungspolitik Maos Ende der 70er durch die Ein-Kind-Politik erfolgreich abgelöst: 300 Millionen Geburten wurden verhindert, die Geburtenrate von 3,7 auf 1,29 Prozent gedrückt. Samt einer vorhergesagten Nebenwirkung: dem neuen Ungleichgewicht der Geschlechter. 1990 kamen bereits 1.110 Jungs auf 1.000 Mädchen, heute sind es 1.190 auf 1.000.

„In zehn Jahren werden 40 bis 60 Millionen Frauen fehlen“, prophezeit Khalid Malik, der leitende UN-Vertreter in China. Malik warnt vor fatalen Folgen wie ausufernder Prostitution und Menschenhandel. Er sieht im Frauenmangel neben Aids und Umweltverschmutzung eines der drei größten Probleme Chinas.

Doch das gesamtgesellschaftliche Gewitter, das sich da ankündigt, ist, je ärmer die Familie, desto schwerer begreiflich. Gerade auf dem Land sind die Existenzängste wieder gewachsen. Unter Mao waren Arztbehandlung und Schule kostenlos, jetzt überfordern Gesundheits- und Erziehungsausgaben die meisten Bauernfamilien. Also denkt man wieder zuerst an den Sohn: an den, der das alles einmal bezahlen soll. Zudem besitzt in China die Mehrheit der Familien ein Stück Land – eine Folge kommunistischer Landreformen. Dieser Landbesitz birgt jedoch ebenso den Wunsch nach einem Sohn, der das Land eines Tages übernehmen möge.

Für die Armen ist guter Rat teuer: Auf wen, außer dem zukünftigen Sohn, ist Verlass, wenn die Töchter nach der Heirat traditionell die Familie verlassen, um Hof und Eltern des Mannes zu pflegen – und zugleich der Staat seine Hilfen abbaut. Da vertraut man doch lieber dem Ultraschallgerät. GEORG BLUME