: Das Porträt des Redakteurs Reitmayer
MEMENTO MORI Katharina Sykora legt den ersten Band ihrer Untersuchung „Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch“ vor
VON STEFFEN SIEGEL
1864 fertigte Albin Mutterer in seinem fotografischen Atelier in der Nussdorfer Straße 22 in Wien ein Porträt des Redakteurs Reitmayer an. Es zeigt ihn in Anzug und Mantel gekleidet, das dunkle Tuch elegant um den schneeweißen Hemdkragen geschlungen. Nur die aufrechte Haltung mit dem angewinkelten rechten Arm, der sich auf einen Beistelltisch stützt, mag vielleicht ein wenig steif wirken. Aber schließlich kennt man das von den frühen Fotografien mit ihren langen Belichtungszeiten. Und eigentlich blickt der Fotografierte alles in allem doch recht versonnen, fast lässig lächelnd in die Kamera. Diese Aufnahme jedenfalls scheint dem Wiener Fotografen perfekt gelungen zu sein: Reitmayer hat vor der Kamera schön still gehalten; nichts ist verwackelt, kein Detail unscharf. Zu danken war dies indes dem Zyankali, mit dem sich der Redakteur am Vortag das Leben nahm. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war er längst tot.
Man kann eine solche Fotografie, die gegen jeden Augenschein einen Toten als Dandy mit brennender Zigarette in der Hand inszeniert, als eine weitere Skurrilität aus jener Stadt abtun, der man ohnehin ein ganz besonderes Verhältnis zum Sterben nachsagt. Oder aber man nimmt Bilder wie dieses zum Anlass, den verschlungenen Beziehungen zwischen dem Reich der Toten und jenem der Fotografie nachzuspüren. Ebendies hat die Braunschweiger Kunstwissenschaftlerin Katharina Sykora getan. Und das Ergebnis ist ein genauso gewichtiger wie eindrucksvoller Band über den, wie die Autorin selbst schreibt, „sozialen Gebrauch der Totenfotografie“. Viel ist über solche Fragen inzwischen nachgedacht worden. Bereits Roland Barthes hatte sich in seiner „Hellen Kammer“ kaum darüber beruhigen können, dass der Blick in die Augen eines zum Tod Verurteilten auf jemandem ruht, der im Bild zwar noch lebt, aber dennoch längst gestorben ist. Wir fühlen uns dem Delinquenten nahe, wir haben womöglich sogar Mitleid mit ihm, denn wir wissen, was ihn erwartet; dennoch kommen wir allemal zu spät.
Die Fotografie wird hier zu einer Sache der Erinnerung, die dasjenige, woran es zu denken gilt, allem Anschein nach gerade eben noch ganz lebendig vor Augen hat. Die sich hierbei entfaltende Verwirrung dringt in das Wesen des fotografischen Bildes, das uns mit einer Vergangenheit unmittelbar konfrontiert, die uns aber gerade hierdurch umso gründlicher entzogen bleibt. Auf nicht weniger als 600 Seiten geht Sykora dieser Paradoxie des Fotografischen nach, schreibt über die fundamentalen Wandlungen westlicher Trauerriten seit der Erfindung der Fotografie, über die sonderbare Leidenschaft des Bildungsbürgertums für Totenmasken und schließlich über Totenfotografie im Kontext von Anthropologie, Medizin und Kriminalistik.
Sykoras glänzend recherchierte Studie schließt an jenes soziologische Projekt an, das ein ganzes Team von Wissenschaftlern um Pierre Bourdieu bereits vor einem halben Jahrhundert beschäftigt hat und das in der längst klassischen Untersuchung „Un art moyen“ mündete. Doch geht Sykora einen Schritt weiter; und gerade dies ist der entscheidende Schritt hinein in das Feld historischer Bildforschung. Denn es genügt nicht, sich für den sozialen Kontext bestimmter Gebrauchsweisen von Bildern zu interessieren. Erst wenn hierzu die genaue kunsthistorische Analyse des Abgebildeten tritt, wird dieser faszinierende Kosmos des Sichtbaren vollends zum Sprechen gebracht. Hierin liegt die große Stärke von Sykoras Buch.
Wann jedenfalls wagte man es zuletzt kaum, die nächste Seite umzublättern, weil man bereits ahnt, dass man nun sogleich sehen wird, wovon man gerade eben noch las? Dabei sind es nur selten die Bilder selbst, die grausam, abstoßend oder ekelerregend wären. Die gleichbleibend unangenehme Erfahrung der in diesem Buch rekonstruierten Geschichte ist, dass es vielmehr die sozialen Praktiken sind, die uns noch heute das eigentliche Schaudern bereiten. Albin Mutterer jedenfalls muss ein hartgesottener Fotograf gewesen sein, dass er in seinem Atelier Selbstmörder so herzurichten verstand, dass es möglich wurde, ihnen ein letztes und durchaus schönes Bild abzugewinnen.
Ausgesprochen wird die Leitthese dieses Buchs an keiner Stelle ganz ausdrücklich, aber in Sykoras Rückblick auf eine erstaunliche Vielzahl von Beispielen wird es umso deutlicher: Es ist unser eigener Umgang mit den Totenfotografien, der beredte Auskunft über uns gibt. Wie wir trauern, wie wir uns erinnern wollen und wie nicht, wie wir Erinnerung bewahren, wie wir sie auslöschen. Und wie wir zuweilen, unversöhnlich über den Tod hinaus, mit Bildern strafen und Vergeltung nehmen. Gewiss mag der Tod für uns zunächst eine höchst individuelle Erfahrung sein, stets ist er aber auch ein soziales Ereignis, in denen Fotografien erwünscht und gefordert, abgewehrt und verboten werden.
Wenn man im Übrigen bei kulturwissenschaftlichen Publikationen eher selten Anlass hat, sich über eine bemerkenswerte grafische Gestaltung Gedanken zu machen, so ist im Fall von Sykoras „Tode der Fotografie“ gerade das Gegenteil der Fall. Dieses Buch kommt als eine pechschwarze und kiloschwere Schatztruhe daher, der unter den Händen des Grafikers Tobias Honert zu einer bezwingenden Eleganz verholfen wurde. Ganz gewiss nicht einzig, aber eben auch aus diesem Grund gilt es ungeduldig auf das Ende dieses Jahres zu warten. Dann soll ein zweiter Band erscheinen, der den künstlerischen Gebrauchsweisen der Totenfotografie gewidmet ist.
■ Katharina Sykora: „Die Tode der Fotografie. Band 1: Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch“. Wilhelm Fink Verlag, München 2009, 603 Seiten, 201 S/W-Abbildungen, 58 €