Erwartungen hochschrauben

PERFORMANCE „12-Spartenhaus“, so nennt sich die neue Produktion von Vegard Vinge und Ida Müller im Prater. Eine Vision vom totalen Theater? Vielleicht, aber am Tag der Premiere blieb der Publikumsraum geschlossen

Der Typ mit der „Joker“-Maske wiederholt permanent: „das Publikum“

VON ANDREAS HARTMANN

Bei herrlichstem Biergartenwetter flanieren Sonnenhungrige und Touristen am Theater im Prater vorbei und fragen sich, warum von drinnen immer und immer wieder ein paar Fetzen von David Guettas Rave-Gassenhauer „Just One Last Time“ nach draußen dringen. Findet da drinnen, nachmittags um 17 Uhr, bereits eine Party statt? Eine verstrahlte Afterhour? Vorstellbar wäre es zumindest, dass irgendjemand aus dem Prater-Premierenpublikum, das sich am Samstag hier in der Nebenspielstätte der Volksbühne zum „12-Spartenhaus“ von Ida Müller und Vegard Vinge eingefunden hat, plötzlich anfängt zu tanzen. Denn die große Frage liegt spürbar in der Luft: Wie verhält man sich jetzt zu dem, was einem hier geboten wird?

Ida Müller und Vegard Vinge waren im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen mit Henrik Ibsens „John Gabriel Borkman“ eingeladen. Das Stück im Prater ging zwölf Stunden lang und war ein radikaler Trip. Das Theater werde endgültig begraben, meinten die einen, das Theater werde gerettet, die anderen. Maskierte Schauspieler-Roboter wiederholten in endlosen Schlaufen irgendwelche Handlungsfolgen, Vegard Vinge pinkelte sich selbst in den Mund, und am Ende wurde die Bühne von den Schauspielern kurz und klein gehauen.

Die Kartoffelsalatschlachten, mit denen Frank Castorf einst von sich reden machte, wirken gegen dieses Treiben plötzlich geradezu seriös. Die norwegischen Regisseure, die mit ihren verlangsamten und zerstörerischen Ästhetik in Ibsen-Inszenierungen in ihrer Heimat schon seit Längerem als Enfant terribles der Theaterszene gelten, haben neue Maßstäbe in Sachen skandalträchtigem Theater gesetzt.

Geheimnis erzeugen

Man ist nun also in den seit „Borkman“ geschlossenen Prater gekommen, um vielleicht gar eine Steigerung der letztjährigen Theaterverstörung zu erleben. Was einen genau erwarten würde, wurde vorher nicht bekannt gegeben, was die ganze Sache noch spannender macht. Und man wird eigentlich auch nicht enttäuscht. Denn es passiert mehr oder weniger: Gar nichts, so annährend vier Stunden lang, was schon ziemlich schockierend ist.

Man kommt sogar nicht einmal hinein ins Theater. Vom Foyer aus bekommt man lediglich Einblicke durch Glasfenster und wird als Zuschauer zu einer Art Voyeur degradiert. In einem der Gucklochkästen nimmt nach ungefähr zwei Stunden das zombieartige Wesen Platz, das zu Beginn im Eingangsbereich herumstand und mit technisch verfremdeter Stimme andauernd „Mäßigung“ sagte. Darüber steht geschrieben: „Ideologische Wand“.

Was das zu bedeuten hat, darüber kann man nun nachdenken oder es so machen, wie immer mehr der Zuschauer, die anfangen, ihre Handys zu checken, es sich auf dem Boden bequem machen oder versuchen, etwas gesunden Theaterschlaf zu finden.

All die Grundelemente der typischen Müller/Vinge-Inszenierungen sind vorhanden beim „12-Spartenhaus“. Die marionettenhaften Schauspieler mit ihren Masken, die verzerrten Stimmen, der skurrile Sound, die wie während eines LSD-Trips hergestellten Interieurs aus aufwendig bemalter Pappe. Doch die so evozierte Ewartungshaltung zu erfüllen, daran denken die Künstler nicht. Der über dem Kassenhäuschen untergebrachte Typ mit der „Joker“-Maske wiederholt permanent lediglich die zwei Wörter „das Publikum“.

In der Leiche wühlen

Durch ein Glasfenster ist ein Mad Scientist zu beobachten, der nicht müde wird, im Gedärm einer Leiche herumzuwühlen, um diverse aus dem Inneren des Körpers hervorgekramte Körperteile mit bewundernswerter Ausdauer unter eine Art Geigenzähler zu halten. Man vernimmt während des Wühlens schmatzige Geräusche, dann macht der Geigerzähler „Piep, piep, piep“.

Das wirkt eher lustig als schockierend. Irgendwann macht der Wissenschaftsroboter sich dann mit Pappmessern an dem roten Glibberzeugs zu schaffen. Man kann sich fragen: Ist das jetzt endgültig Publikumsverarsche? Oder eine symbolische Handlung, seziert er die Theaterkunst?

Zwischendurch sieht man auf einer der Leinwände, wie eine Handkamera durch die für die Zuschauer nicht betretbare Prater-Bühne fährt. Man bekommt Einblicke in verwaiste Zuschauerränge, sieht eine leere Bar, diverse Utensilien, die vielleicht der irr wirkende Leichendurchwühler für seine Arbeit benötigt. Alles sieht aus wie ein surreal wirkender Albtraum und auch wie ein Versprechen, dass in den nächsten Aufführungen von „12-Spartenhaus“ die Bühne doch noch betreten werden und sich der komplette Wahnsinn erneut im Prater ausbreiten könnte.

■ Wieder am 10., 12., 16., 19., 24. und 26. Mai im Prater