: Kost nix is’ was
Umsonst ist nur der Tod. Oder etwa doch nicht? Die Umsonstläden sind der Versuch, eine alternative Ökonomie jenseits des Zwangs zum Tauschwert zu etablieren. Ein Besuch in Hamburg-Billstedt
von Hanna Haag
Zugegeben, es ist ein ungewohntes Gefühl. Man geht in einen Laden, schaut sich in aller Ruhe um, sucht sich etwas Nettes, steckt es ein und geht. Da ist keiner, der ruft : „He, Sie da, kommen Sie sofort zurück, das ist Diebstahl!“
„Kost Nix“ steht auf einem Pappschild im Fenster. Eine schmale Treppe führt in den ersten Stock. Die Tür ist weit geöffnet. Im Gang drängen sich einige Besucher, ein kleines Mädchen zieht seine Mutter hinter sich her. Sie hat das Zimmer mit den Spielsachen entdeckt. Drei Jungen kommen ihnen entgegen. Sie tragen einen rosafarbenen Schlitten vor sich her. „Guck mal, Helga, die wollen den Schlitten mitnehmen, dabei ist doch erst August!“ Die drei scheint das nicht zu stören. Triumphierend schreiten sie durch den Laden hinaus ins Freie.
Das Mädchen zeigt seiner Mutter einen Teddybären, den es aus einer Kiste im Regal geholt hat. Ihre Augen leuchten. „So einen hast du doch schon. Komm wir schauen mal da drüben.“ Enttäuscht lässt die Kleine den Teddy fallen. Die Mutter geht zu einem anderen Regal. An einer Schnur baumeln ein paar Stofftiere und Kinderkleider. Ein Affe blickt verträumt aus dem Fenster. Im Eingangsbereich unterhält sich ein Ehepaar mit einem älteren Herrn.
Als die beiden den Laden verlassen wollen, kommt ein Mitarbeiter auf sie zu. „Wenn Sie vielleicht so freundlich wären und uns eine kleine Spende zukommen lassen würden? Wissen Sie, wir müssen ja jeden Monat 850 Euro Miete zahlen.“ Die Frau wirft einen flüchtigen Blick auf die Vase in ihrer Hand, dann greift sie in ihr Portemonnaie. Mit einem leisen Klirren fällt die Münze in den Spendenteller.
„Ursprünglich war der Umsonstladen ein Projekt von Studenten der Fachhochschule des Rauhen Hauses, doch seit zwei Jahren müssen wir uns selbst finanzieren“, erklärt Ralle. Er war dabei, als der Laden vor vier Jahren gegründet wurde. „Es geht uns hauptsächlich darum, dass die Menschen alte Gegenstände nicht einfach wegwerfen, sondern hierher bringen, wo sie dann ein neues Leben erhalten. Wir verstehen uns aber bewusst nicht als Armutsprojekt, sondern sind für jeden da, der Spaß an alten Sachen hat.“
Die blonden Locken fallen ihm ins Gesicht. Eigentlich heißt er Ralph, aber alle nennen ihn Ralle. Der 51-Jährige arbeitet als Sozialbetreuer, die Mitarbeit im Umsonstladen ist für ihn ein Ausgleich. „Da wird was fürs Gemeinwesen getan, man arbeitet super an der Basis.“ Ralle kennt viele der Besucher. Die meisten kommen regelmäßig in den Laden, denn es ist nicht nur ein Ort, an dem man Sachen umsonst bekommen kann. „Viele kommen auch her, um sich zu unterhalten oder einen Kaffee zu trinken.“
Kaffee gibt’s in der Kost-Nix-Bibliothek. Drei Bücherregale säumen die Wände. An den Seiten kleben kleine Zettel mit den einzelnen Rubriken. „Psychologie und Medizin“ findet man gleich neben der Tür. Darunter stehen Bücher aus den Bereichen Politik und Gesellschaft. Den größten Teil der rund 1.500 Bücher machen jedoch die Romane aus. Wer einen bestimmten Autor sucht, muss ein wenig Geduld mitbringen. „Früher“, erzählt Ralle, „konnte man so viele Bücher mitnehmen, wie man wollte. Aber dann haben sich ein paar Trödelhändler die Taschen voll gestopft und nur die Bücher zurückgelassen, die keiner haben wollte. Deshalb haben wir die Anzahl jetzt auf drei Stück pro Person und Besuch beschränkt.“
Das Gleiche gilt für alle übrigen Gegenstände. Jeder darf maximal drei Teile mitnehmen, bei großen nur eines. So steht es auf einem Schild mit den zehn goldenen Regeln des Umsonstladens. Regel Nummer Drei: Entdeckt man ein zusammengehöriges Set, so kann man das ganze Set mitnehmen, aber nichts anderes mehr. Doch längst nicht alle halten sich daran. Viele Leute, so Ralle, widersetzen sich den Regeln, indem sie mehrere Sachen einstecken. „Wir leben nun mal leider im kapitalistischen System, da gilt es, möglichst viel raus zu hauen und zwar mit möglichst wenig Aufwand!“ Darin sieht er den Hauptkonflikt des Umsonstladens. Vor allem durch den betriebswirtschaftlichen Zwang, der dadurch entsteht, dass sich das Projekt selbst finanzieren muss, wird der Laden in seinen Augen Teil dieses Systems, aus dem er eigentlich ausbrechen will. „Wir müssen die Leute um Spenden bitten, obwohl der Laden Kost-Nix heißt. Aber wenn wir ihn Kost-fast-Nix nennen, steht sofort das Finanzamt vor der Tür“, sagt Ralle. Man merkt ihm an, dass er damit zu kämpfen hat.
Der Umsonstladen in Billstedt ist eines von derzeit rund 30 Projekten in Deutschland, die einen alternativen Warenaustausch fördern. Allein in Norddeutschland kann man in mindestens zehn Läden umsonst einkaufen. Die Bibliothek füllt sich. Immer neue Leute kommen herein, ziehen einzelne Bücher heraus, setzten sich an den Tisch und beginnen bei einer Tasse Kaffee zu lesen. Neben der Kaffeekanne steht eine Schale mit Keksen. Für Zucker ist auch gesorgt: Es gibt Würfelzucker, Kandis, einen Zuckerstreuer und Süßstoff. Eine ältere Dame hat sich ein Buch mit einem grasgrünen Umschlag aus der Rubrik „Ratgeber“ geholt: „Das kleine Buch vom wahren Glück“. Einmal in der Woche komme sie in den Laden, meint die Frau und nimmt sich einen Keks. „Meistens Sonnabend, da ist ein bisschen weniger los. Die stehen ja sonst hier schon immer alle Schlange!“
Heute ist es ruhiger. Ulli, einer der 15 ehrenamtlichen Mitarbeiter, hat genug Zeit, um einen Stapel liegen gebliebener Bücher aufzuräumen. Seit zwei Jahren arbeitet er im Umsonstladen mit. „Man kann sich auch mal mit Leuten unterhalten, das ist doch toll!“
Wie die meisten im Team ist Ulli Rentner. Bedächtig nimmt er die Bücher vom Tisch und trägt sie zum Sofa, das vor dem Fenster steht. Dann setzt er sich daneben, holt seine weiße Kaffeetasse mit den schwarzen Punkten vom Fenstersims und schlägt das oberste Buch auf. „Unterwegs ins Unbekannte – Forschungsreisen“. Hinter ihm hängt eine alte Weltkarte an der Wand. Aus dem Radio ertönen deutsche Schlager. Die ältere Dame ist inzwischen aufgestanden und geht mit ihrem neuen Buch zum Ausgang. Eine junge Frau kommt gerade zur Tür herein. Sie trägt eine ausrangierte Warmhaltekanne in der Hand. Die ältere Dame überlegt kurz, ob sie auch die Kanne noch mitnimmt. Dann entscheidet sie sich dagegen. „Ich hab genug Zeug! Hier, sie kriegen von mir nen Fünfziger, man soll ja nich so kleinlich sein.“
Die Münze rollt in den Spendenteller, die Mitarbeiterin hinter der „Kasse“ bedankt sich mit einem verständnisvollen Lächeln. Vielleicht hatte die Frau ja die Botschaft gelesen, die hinter ihr an der Wand hängt. „Brauchst du das wirklich, oder bist du nur gierig?“ Die Warmhaltekanne muss jedenfalls noch auf ein neues Leben warten. Die Mitarbeiterin nimmt sie und trägt sie in das dritte Zimmer des Ladens. Dort haben sich mit der Zeit zahlreiche Vasen, Teller, Kannen und Gläser angesammelt. Auch ein Monitor, zwei alte Kaffeemaschinen und eine Kiste mit Holzschuhlöffeln liegen im Regal. „Jeden Tag kommen Leute mit Kisten voller Dingen, die sie nicht mehr haben wollen. Sogar Freunde, die mich besuchen, haben immer eine Tüte mit alten Sachen dabei. Man könnte den Laden schon fast als Konsummuseum bezeichnen“, sagt Ralle.
Inzwischen ist es leerer geworden, in wenigen Minuten wird der Laden schließen. Drei Jungen kommen herein, zielstrebig laufen sie auf das Zimmer mit den Spielsachen zu. Der älteste von ihnen greift nach einem Computerspiel, das in einem CD-Regal steckt. Als die drei zum Ausgang eilen, fragt Ulli sie nach einer Spende. „Was denn für ’ne Spende? Das ist doch hier alles umsonst!“