: Im Ring mit Aschenputtel
AUS KÖLN LUTZ DEBUS
„Guck mich an! Guck mich an!“ Ein kurz geschorener, rothaariger Mann mittleren Alters und mit bulliger Statur tänzelt im Ring und schreit seinen Gegner an. Der 16-jährige schmächtige Junge versucht, ihn zu treffen. Die Schläge des Kleinen fängt der Große mit seinen kellenförmigen Schaumstoffhandschuhen locker ab. „Stopp mal“, ruft der Mann mit den roten Stoppeln und einem Gesicht, das wie aus Holz geschnitzt wirkt. Er streift eine der beiden Pratzen ab, deutet auf seine Knöchel und ruft nach hinten: „Ich brauch mehr Bandage.“
32 Kinder und Jugendliche trainieren an diesem Montagabend in der kleinen Halle direkt hinter einem Getränkemarkt im Kölner Stadtteil Nippes. Trainer Friedrich Henkel betreut für die Faustkämpfer Kalk e.V. die bunte Truppe. Acht bis 18 Jahre sind die Nachwuchsboxer alt. Sie wohnen in den rechtsrheinischen Stadtteilen, also nicht gerade in den feinen Gegenden. Überwiegend Hauptschüler und Sonderschüler. Vier Mädchen sind heute gekommen, auch sie machen mit: Muskelaufbautraining, Gewichtheben, Übungen mit Hanteln. Und immer wieder stehen sie vor dem Boxsack. Zentimeter weit bewegt er sich, wenn die zarte Nadja aus Tunesien gegen ihn schlägt. Dabei rinnt ihr der Schweiß von der Stirn. Sie lächelt versonnen. Natürlich kämpfen die Mädchen – auch gegen Jungs. Das sei kein Problem, sagt Trainer Henkel.
Auch Daniela Otten drischt mit knallroten Boxhandschuhen auf den Sandsack ein. Eine Links-Rechts-Kombination folgt der nächsten. Die Sonderschullehrerin trainiert hier zwei Mal in der Woche Olympisches Boxen. Manchem jungen Athleten, der neben ihr schwitzt und schlägt, gibt sie Nachhilfe in Deutsch oder kontrolliert die Hausaufgaben. Die Betreuung in diesem Sportverein beschränkt sich nicht auf das Sportliche. Trainer Friedrich Henkel lässt sich von manchem Jugendlichen die Zeugnisse zeigen. Nur, wer in der Schule seine Leistungen hält oder sich verbessert, darf am Training teilnehmen. Henkel spricht auch regelmäßig mit den Eltern, holt manchen Jungboxer mit dem Auto von zu Hause ab.
Kinder und Jugendliche aus mehr als 30 Nationen sind bei den Faustkämpfern Kalk aktiv. „Hier in der Halle findet kein Krieg zwischen den Nationalitäten statt. Wer das versucht, fliegt!“, erklärt Daniela Otten. In ihrer Freizeit ist die Pädagogin Kampfrichterin. Manche Elemente des Trainings kann die 32-Jährige auch in ihrem Sportunterricht in der Sonderschule für erziehungsschwierige Kinder einsetzen. Allerdings sind Kampfsportarten in der Schule untersagt, fügt sie hinzu – und scheint nicht ganz nachzuvollziehen können, warum. Bei den Faustkämpfern Kalk lernen die Kinder, so Otten, sich an klare Regeln zu halten.
Für Trainer Henkel ist Boxen der ideale Sport für schwierige Jugendliche. Nach zwei Stunden Training sei der aggressivste Junge lammfromm und wolle nur noch schlafen gehen. Die enorme körperliche Beanspruchung baue Stresshormone ab. Das sei wissenschaftlich erwiesen. Aber auch das Sozialverhalten sei bei seinen jungen Athleten weiter entwickelt als bei anderen Jugendlichen aus dem Stadtteil. „Fast jeder, der das erste Mal hierhin kommt, glaubt, er sei der Stärkste.“ Schnell lerne jeder seine Grenzen kennen. „Beim Boxen muss man verlieren können.“ Erst nach sieben Siegen bei Turnieren gelte der Boxer nicht mehr als Anfänger. Einige Jugendliche hören schon vor ihrem dritten Sieg mit dem Boxsport wieder auf. Verletzungen spielen, so Henkel, bei dieser Entscheidung weniger eine Rolle. Für manchen erfordere das regelmäßige Training zu viel Disziplin.
Thomas Vahrenholt ist geblieben. Der 13-jährige Hauptschüler ist inzwischen Mittelrheinmeister und Westdeutscher Meister. „Der Junge wäre fast Deutscher Vizemeister im Bantamgewicht geworden“ erklärt Friedrich Henkel stolz. Thomas wirkt dabei eher schüchtern und verlegen. „Naja, boxen macht mir Spaß“, murmelt er. Auch die Gemeinschaft hier finde er gut.
Das Training ist gerade zu Ende gegangen. Einige der jugendlichen Kämpfer verabschieden sich von Thomas. Die türkischen Jungen geben dem Fastvizemeister auf die linke und die rechte Wange einen Kuss. Dann kommen zwei aus Kasachstan mit einem höflichen Händedruck. „Gimme five“, verabschiedet sich ein anderer Junge aus dem Kölner Norden. Ansonsten wird in der Halle deutsch gesprochen, darauf achtet Friedrich Henkel. Am Ring sollen keine Parallelgesellschaften entstehen.
Am Ausgang steht Rolf Worthoff. Er ist Inhaber der Trainingsstätte. Die Jugendlichen lässt er umsonst hier boxen. Andere Gruppen müssen zahlen. Er bietet spezielle Trainings für Frauen an. Auch für Schauspieler und für Manager. Im Moment sei Schachboxen der Renner, eine Art Biathlon ohne Schnee und Gewehr. Aber sein Herz, so beteuert Worthoff, schlage für diese Gruppe. Er habe ja auch mal klein angefangen. 1965 stand der mittlerweile 65-Jährige selbst erfolgreich im Ring. Deshalb sei es für ihn eine Ehrensache, die Faustkämpfer Kalk zu unterstützen.
Der Trainingsraum leert sich, zurück bleiben die Folterinstrumente. Die Hanteln. Die Gewichte. Die Sandsäcke. Warum nehmen die wilden Kerle diesen Drill auf sich? „Viele träumen noch immer davon, ganz groß rauszukommen“, erklärt Friedrich Henkel. „Rocky“, der Film mit Sylvester Stallone aus den 1980ern, sei für viele Jungs noch immer wie das Märchen von Aschenputtel.
Doch ob Schuh oder Boxhandschuhe, kaum einer der Kids hier in Nippes, so die Einschätzung von Friedrich Henkel, werde ein Königreich gewinnen. Mancher Profiboxstall habe zwar erfolgreiche Athleten abgeworben. Das schnelle Geld lockte die jungen Männer. Dabei könne das olympische Boxen, wie es bei den Faustkämpfern Kalk praktiziert wird, nicht mit dem Profiboxen verglichen werden. Die Profis boxen ohne Kopfschutz. Und die Kämpfe dauern länger, statt vier sind es zehn bis zwölf Runden. Viele Kämpfe enden dann, wenn ein Boxer im Ringstaub liegt. Und ein Profiboxer verdient in der Regel auch nicht soviel, dass es zum Leben reicht. „Fallobst!“, nennt Daniela Otten diese abgewanderten Kollegen.
Ob das olympische Boxen nicht auch harmloser sei als das Profiboxen, weil doch eher nach Punkten gekämpft wird, es nicht darauf ankomme, den Gegner umzuhauen? Da beginnen Daniela Ottens Augen zu leuchten: „Och, ein K.O. ist doch auch was schönes.“ – „Kommt bei der Kürze der Kämpfe natürlich sehr selten vor“, ergänzt Friedrich Henkel schnell.
Für Vater Vahrenholt, der sich mit seinem Sohn auf den Heimweg macht, ist Boxen der ideale Sport für den 13-Jährigen: „Er raucht nicht. Er trinkt nicht. Er ist ruhig. Er ist gut in der Schule. Und er ist erfolgreich. Was will ich mehr?“ Sorgen um die Gesundheit seines Sohnes macht er sich auch nicht. Schließlich werde man mindestens ein Mal im Jahr ärztlich untersucht. „Das gibt's beim Fußball nicht.“