: Das wahre Angebot an den Menschen
KINO Terrence Malick ist der große Solitär des US-amerikanischen Kinos. Ein Essay über sein besonderes Verhältnis zur Natur
■ Der Regisseur: Mit seinem Debüt, „Badlands“ (1973), schuf der 1943 geborene Malick einen Schlüsselfilm der New-Hollywood-Ära. Martin Sheen und Sissy Spacek geben zwei Outlaws, die vor der Polizei in eine sumpfige Landschaft fliehen; ihr Ausbruch birgt kein Versprechen auf Freiheit. 1978 folgt „Days of Heaven“ („In der Glut des Südens“), dann, nach einer Pause von 20 Jahren, „The Thin Red Line“, angesiedelt auf einer Pazifikinsel im Jahr 1942, US-amerikanische Soldaten versuchen sie einzunehmen. Mit „The New World“ (2005) variiert Malick den Mythos um Pocahontas, einer Indianerin, die sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts in einen englischen Captain verliebte; zuletzt hat er „The Tree of Life“ (2011) und „To the Wonder“ (2012) gedreht.
■ Filmreihe und Buch: Das Berliner Arsenal-Kino zeigt die Filme ab dem 12. Mai. Am Sonntag ist der Wiener Filmkritiker Dominik Kamalzadeh zu Gast, um das mit Michael Pekler gemeinsam verfasste Buch „Terrence Malick“ (Schüren, Marburg, 19,90 Euro) vorzustellen. Unser leicht gekürzter Text stammt aus diesem Buch.
VON DOMINIK KAMALZADEH UND MICHAEL PEKLER
Natur ist überall in den Filmen von Terrence Malick, und wenn sie fehlt, verweist dieses Fehlen umso stärker auf ihre Bedeutung. „Ich bin in die Liebe zum Wald hineingewachsen“, meint Holly (Sissy Spacek) in „Badlands“. „Das Gurren der Tauben und das Schwirren der Libellen in der Luft ließen ihn einsam wirken, so als wären alle tot und unter der Erde.“
Die Menschen, die sich durch die Natur bewegen, sind jedoch nicht in sie eingebettet. Das ist nicht darin begründet, dass die Natur wie im klassischen US-amerikanischen Kino als Kulisse dient, vor der sich Handlung und menschliche Schicksale ereignen. Vielmehr erhält sie durch ihre Darstellung aus nächster Nähe eine neue, doppelte Bedeutung: Die für Malick charakteristischen Großaufnahmen, welche die kleinsten Bewegungen von Insekten und Blättern registrieren, verhindern nicht nur die „Erfassung“ der Natur mittels einer Totalen (so wie die Soldaten in „The Thin Red Line“ keinen Überblick über die zu erstürmende Insel bekommen und Captain Smith in „The New World“ sich zwischen den Gräsern und Flussläufen immer wieder „verliert“), sondern sie geben den Menschen die Möglichkeit einer Nähe, in der die Natur ihre scheinbare Unnahbarkeit und Unberührbarkeit einbüßt.
Es ist interessant zu beobachten, dass man in den Filmen Malicks zwar fast immer genau weiß, an welchen Orten sich das Geschehen entwickelt und welche geografischen Räume die Figuren durchqueren, ein Überblick über diese Räume jedoch ausgespart bleibt. Der einzige Blick auf die gesamte Pazifikinsel, die die Soldaten in „The Thin Red“ Line zu erobern haben, ist den beiden Offizieren an Bord des Schiffs vorbehalten – in Form einer Landkarte voller abstrakter Linien und Schraffierungen, in ihrer militärischen Verdinglichung der Natur das Gegenteil zu jener aus „The New World“. Von den Flugzeugen, die die japanischen Stellungen bombardieren, ist ebenso wenig ein Überblick zu gewinnen wie aus den Doppeldeckern des Flying Circus in „Days of Heaven“, aus dem kleinen Propellerflugzeug, das am Ende von „Badlands“ Kit (Martin Sheen) zu seiner Hinrichtung fliegt und aus dem gelben Flugzeug, mit dem die Mutter in „The Tree of Life“ die Landschaft überfliegt. Es sind die Großaufnahmen von der sie umgebenden und auf sie einwirkenden Natur, die in „The Thin Red Line“ den Soldaten die Möglichkeit geben, mit einer anderen Welt als der des Krieges und damit mit sich selbst in Verbindung zu treten.
Das ist das wahre Angebot der Natur für den Menschen in den Filmen Malicks. Damit ist klar, dass die Natur keineswegs jenes verlorene Paradies sein kann, das von der menschlichen Zivilisation unberührt existiert. Die Vorstellung einer Art Garten Eden mag sich zwar vordergründig anbieten (zuletzt in „To the Wonder“ mit dem Schauplatz des Klosters Mont St. Michel), greift aber zu kurz. Denn die Natur als Idylle, als für ein gelungenes menschliches Dasein unabdingbares Phänomen, ist bei Malick nicht örtlich abgeschlossen denkbar: Das Paradies, das etwa der zweifelnde Captain Smith (Colin Farrell) in „The New World“ und der desertierte Private Witt (Jim Caviezel) in „The Thin Red Line“ finden, ist zwar eine von den Verfehlungen der Zivilisation „unberührte“ Natur, für den jeweils Suchenden muss sie aber vorübergehende Station bleiben.
Malick geht es um ein Zusammendenken von Natur und Mensch, um eine zeitlich und räumlich unbegrenzte Interaktion. Nicht die Möglichkeiten des Kinos sind für ihn von Interesse, ein seit Jahrhunderten kunsthistorisch vorgeprägtes Naturbild (Himmel, Wasser, Bäume) neu zu zeichnen, sondern die Darstellung eines unablässigen Ineinandergreifens von Bewusstsein und Natur. So wie die Menschen ständig psychisch in Bewegung sind und alles einer ständigen Neuordnung unterworfen ist, so sind auch die Grenzen zwischen Zivilisation und Natur verschiebbar.
In „Days of Heaven“ etwa findet man, ähnlich wie in „The New World“, diese permanente Grenzverschiebung bereits im Vorspann: Malick arrangiert darin eine Reihe von historischen Aufnahmen der berühmten amerikanischen Fotografen Lewis Hine und H. H. Bennett. Hines Alltagsbilder von Arbeitern und Straßenkindern, die das soziale Elend in den Großstädten an der Ostküste dokumentieren, folgen Bennetts Fotografien von den Wisconsin Dells, darunter jenes berühmte Bild, auf dem sein Sohn von der Klippe auf eine pittoresk aufragende Felsnadel springt. Durch die Anordnung der Fotografien nimmt der Film nicht nur die Bewegung vorweg, die vom urbanen Elend hinaus in die Natur führt – also jene Fluchtrichtung, die auch die Figuren Bill, Abby und Linda einschlagen –, sondern auch die Zusammenführung dieser beiden vermeintlich getrennten Welten: Im letzten und historisch „falschen“ Bild sieht man Linda (Linda Manz) mit angezogenen Beinen auf offener Straße kauern, zugleich endet das musikalische Thema aus „Le Carnaval des animaux“ (1886) von Camille Saint-Saëns, dessen Aquarium-Motiv die Fotografien begleitet.
Das Unterwasserbild wird als Motiv wiederkehren, wenn Bill (Richard Gere) am Ende des Films tödlich getroffen vornüber in den Fluss fällt. „Wenn Bill gejagt und erschossen wird, sind die Zuschauer am Flussufer auf eine Weise reglos, die an eine Fotografie von Bennett erinnert; die Gewalt dringt in die müßiggängerische Freude an der Natur ein“, beschreibt der Kunsthistoriker Robert Silberman den Einbruch der Gewalt in die Idylle.
Von allen bisherigen Filmen Malicks verdeutlicht das Ende von „The Tree of Life“ am eindrucksvollsten diese Zusammenführung des Gegensätzlichen. Zunächst sieht man den erwachsenen Jack (Sean Penn) in einem Fahrstuhl. Seinen Visionen und seinem Ego als Kind folgend gelangt er durch einen hölzernen Türrahmen an einen zeitlosen Ort, an das Ufer eines Sees, an dem er seine Familie – im selben Alter wie in seinen Erinnerungen an seine Kindheit – wieder trifft. Immer wieder scheinen die Figuren sich im Gegenlicht aufzulösen, ihre Konturen zu verlieren, die Unterschiede zwischen den Elementen scheinen sich aufzuheben. Die Kamera gleitet über die Wellen, umkreist die Körper, dreht sich um die eigene Achse. Eine Maske sinkt – wie das vom Mondlicht beschienene Weinglas in „Days of Heaven“ – in die Tiefe; eine Türe öffnet sich unter Wasser – wie das Zimmer von Witts sterbender Mutter in „The Thin Red Line“ in den Himmel – und verunmöglicht die Unterscheidung von Innen und Außen.
In diesem Moment verbinden sich die verschiedenen Teile, Erzählungen und Zeiten des Films in einer Art, als ob sie nie voneinander getrennt gewesen wären. „Ich übergebe ihn dir. Ich übergebe dir meinen Sohn“, lauten die letzten Worte des Films, die der Mutter vorbehalten sind und mit denen man glaubt, die letzte Grenze – zur Unsterblichkeit – sei erreicht. Doch Malick kehrt noch einmal zurück, lässt uns mit Jack im Fahrstuhl unten ankommen, führt uns hinaus ins Freie unter einen Baum und blickt zurück auf die Glasfassaden des Wolkenkratzers. Tatsächlich umspielt ein Lächeln Jacks Mund. Das nächste Bild zeigt eine über das Wasser führende monumentale Brücke, zuletzt ein Aufleuchten eines kosmischen Lichts.
„Ich werde zu einem durchsichtigen Augapfel; ich bin nichts; ich sehe alles; die Ströme des universellen Wesens durchwogen mich; ich bin ein Teil oder Splitter Gottes“, heißt es an einer der berühmtesten Stellen von Ralph Waldo Emersons Essay „Nature“.
Und bereits zwei Absätze weiter der weniger berühmte, aber nicht minder wichtige Satz: „Doch gilt es als sicher, dass die Kraft, die diese Freude hervorruft, nicht der Natur innewohnt, sondern dem Menschen oder der Harmonie zwischen Mensch und Natur.“