: Schafft unser Steuerrecht Betrüger?JA
PARAGRAFEN Das Sonntagsessen als Kundenakquise, ein Arbeitszimmer in der eigenen Wohnung: Tricksen kann so einfach sein
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Sven Giegold, 43, ist finanzpolitischer Sprecher der Grünen im EU-Parlament
Unser Steuersystem schafft Ausreden. Es macht aus Lästigem ein rechtes Übel. Während Arbeitnehmer Steuern und Sozialabgaben direkt vom Lohn abgezogen bekommen, sind viele Kapitaleinkommensbezieher in Steueroasen verduftet. Schwarzarbeit – die Steuerflucht der kleinen Leute – wird so in der Logik vieler Steuerhinterzieher zu einer Robin-Hood-Aktion. Die Vielzahl von Sonderregelungen macht Buchhaltung in Kleinunternehmen zu einer Nervenprobe. Steuervereinfachung ist nicht rechts. Sie muss nicht, wie bei Paul Kirchhof, mit einem niedrigen Spitzensteuersatz verbunden werden. Der Kampf gegen Steuerflucht und -hinterziehung ist eher ein Aphrodisiakum der Steuermoral.
Andreas Koristka, 31, arbeitet als Redakteur beim Satiremagazin Eulenspiegel
Die negative Kraft des Steuersystems ist enorm. Als Beweis gilt Uli Hoeneß. Einst war er: »Obersamariter« (Welt), »fürsorglicher als ein Herz-Jesu-Sozialist« (Süddeutsche) und »moralische Instanz« (Spiegel). Tragen wir Schuld daran, dass aus diesem herzensguten Menschen der gierige, kaltherzige Zocker mit der aufgedunsenen Cholerikervisage wurde? Haben wir zu seiner Persönlichkeitstransformation beigetragen? Sind wir teilweise mitverantwortlich, weil wir ein Steuersystem tolerieren, das zum Betrug einlädt? Würde der nicht erheblich erschwert, wenn es gar keine Steuern gäbe? Diese Fragen sollte jeder für sich selbst beantworten – und zwar mit Ja.
Reiner Sahm, 72, ist Steuerberater und Autor des Buches „Zum Teufel mit der Steuer“
Ja! Das geltende Steuerrecht ist unübersichtlich, bietet Schlupflöcher und ist ungerecht. Warum sollen wir uns ehrlich verhalten? Hochverdienende mindern ihre Steuerlast legal. Geringverdiener haben keine Chance, versuchen aber doch, ihre Steuerlast „volkssportartig“ zu senken. Vielen geht es aber nicht darum, mehr Geld in der Tasche zu behalten. Sie sind getrieben vom Gefühl profunder Ungerechtigkeit. Keiner will eine „Dummensteuer“ bezahlen, wenn große Fische durchs Netz schlüpfen: Das deutsche Steuerrecht wird als Raubrittertum empfunden. So greift man zur Selbsthilfe. Dabei wäre ein faires Steuersystem kein Hexenwerk.
Lisa Paus, 44, Grüne, ist Obfrau des Finanzausschusses im Bundestag
Der Fiskus verzichtete mit Einführung der Abgeltungssteuer auf Transparenz. Ein Fehler. Ein weiteres Mittel wäre ein europäischer Steuerpakt. Neben Gesetzen braucht man gerechten Vollzug. Die Realität ist: Unternehmen müssen nur alle 30 Jahre Kontrollen fürchten, wegen Personalnot. In Berlin kommen 45 Steuerfahnder auf eine Million Einwohner, in Bayern nur 27. Eine Bundessteuerverwaltung könnte den Wettbewerb um die laschesten Kontrollen beenden.
Claus Munkwitz, 61, Geschäftsführer der Handwerkskammer Region Stuttgart
„Ja“ kann ich nicht sagen, das hieße, Steuerhinterziehung zu rechtfertigen. Ein „Nein“ passt auch nicht. Denn das Steuersystem ist kompliziert geworden. Manche Betriebe kommen mit ihm nicht klar. Im Umsatzsteuerrecht lauern Fallen, die ehrliche Handwerker oft nicht erkennen. Wer – unwissentlich – etwas missachtet, wird für sein „Vergehen“ genauso an den Pranger gestellt wie die Großbetrüger.
Nein
Hans Eichel, 71, SPD, war von 1999 bis 2005 Bundesminister für Finanzen
Nein, das ist eine faule Ausrede. Gültige Gesetze sind von allen zu beachten, auch wenn sie nicht gefallen. Man kann ja auf ihre Änderung hinarbeiten. Und bei der Kompliziertheit im Steuersystem kann immer das Finanzamt gefragt werden. Die Grundregeln sind doch klar: dass Hinterziehung verboten ist, Beispiel Karussellbetrug bei der Umsatzsteuer. Dass man sich als Berechtigter gezahlte Umstatzsteuer erstatten lassen kann, nicht gezahlte aber nicht. Trotzdem wird der Staat wissentlich betrogen. Das gilt auch bei Aktiengeschäften und Dividendenausschüttungen. Betrügereien solcher Art geschehen organisiert, gewerbsmäßig, oft mit Hilfe von Banken. Nicht das Steuersystem schafft Betrüger, sondern Betrüger machen sich am Steuersystem zu schaffen.
Andrea Förster-Schembach, 49, ist im Vorstand von „Schöne Aussichten“
Unser Steuersystem schafft keine Betrüger. Wer sich mit der Nachweispflicht und den Risiken beschäftigt, weiß, wie schwer es ist, Privates unterzubringen. Die fünfte Restaurantrechnung, als Kundenakquise abgesetzt, ist auch nicht das Problem. Hier fragt man sich, ob sich der Aufwand lohnt. Für die Positionen, mit denen wir wirklich sparen könnten, hat sich das Finanzamt bereits zu viele Nachweispflichten einfallen lassen. Und irgendwann kommt der Betriebsprüfer. Wer kreativ mit seiner Steuererklärung umgegangen ist, wird böse aufwachen und eine unbequeme Summe nachzahlen.
Marianne Schwan, 57, ist Steuerberaterin und schrieb „Steuertricks für Frauen“
Die meisten Steuerzahlenden betrügen nicht. Die Lohnsteuer wird vom Lohn abgezogen, der Gestaltungsspielraum beim Jahresausgleich ist gering: Fortbildung, Arbeitszimmer et cetera müssen nachgewiesen werden. Auch bei der Umsatzsteuer ist kaum Betrug möglich: Das Brot wird dem ausgehändigt, der denSteuerbetrag mitbezahlt. Das Steueraufkommen aus Lohn- und Umsatzsteuer ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen, von 30 Prozent in den 50ern zu heute 57 Prozent. Lise und Otto Normalverbraucher können nicht betrügen, ein Steuerparadies ist unerreichbar.
Reiner Holznagel, 37, ist Politikwissenschaftler und Präsident des Bunds der Steuerzahler
Die Mehrheit zahlt ihre Steuern. Zuschläge, Freibeträge und Gerichtsentscheidungen machen das deutsche Steuerrecht aber auch kompliziert. Dennoch begünstigt das die bewusste Hinterziehung nicht. Schließlich stopfen wir uns im Supermarkt auch nicht die Taschen voll, nur weil dort Ware ausliegt. Die Ware zu sichern, um Dieben das Handwerk zu erschweren, macht gleichwohl Sinn. Im Steuerrecht sind daher internationale Abkommen notwendig.
Kirsten Musyal, 50, lebt in Neubrandenburg und kommentierte die Frage per Mail
Ich bin seit 22 Jahren Angestellte im Öffentlichen Dienst und mache eine Steuererklärung. Alle Angaben werden bis ins Detail geprüft, sodass ich mir nicht vorstellen kann, wie am Finanzamt vorbei Steuerbetrug stattfindet. Ich glaube, dass es die 10 Prozent der reichsten Deutschen sind, die sich Gedanken um illegalen Finanztransfer machen. Man hat das Gefühl, dass die Finanzämter die Steuerzahler nicht in gleichem Maße kontrollieren. Die „Großen“ lässt man machen!