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Archiv-Artikel

„Der Staat verletzt seine Schutzpflicht“

ATOMPOLITIK Die Deutsche Umwelthilfe hält eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten für verfassungswidrig. Die Autorin des Gutachtens, Cornelia Ziehm, erklärt ihre juristischen Bedenken gegen die Regierungspläne

Cornelia Ziehm

■ Sie ist 40 Jahre alt und promovierte Juristin. Bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH) in Berlin leitet sie das Ressort „Klimawandel und Energiewende“.

taz: Frau Ziehm, eine gesetzliche Verlängerung der AKW-Laufzeiten verstoße gegen das Grundgesetz, das schreiben Sie in Ihrem Gutachten für die Deutsche Umwelthilfe. Warum?

Cornelia Ziehm: Der Staat verletzt seine Schutzpflichten, wenn er die Produktion weiteren Atommülls zulässt, obwohl es noch keinerlei Lösung für die Endlagerung hochradioaktiven Abfalls gibt.

Warum fordern Sie in Ihrem Gutachten dann nicht den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft?

Als Rot-Grün ab 1998 den Atomausstieg umsetzen wollte, wäre ein Sofortausstieg – unter anderem wegen der fehlenden Atommüllentsorgung – eigentlich rechtlich geboten gewesen. Dass dann lediglich Restlaufzeiten pro Reaktor festgelegt wurden, war Ergebnis einer Abwägung zwischen widerstreitenden Grundrechten.

Inwiefern?

Auf der einen Seite standen die Schutzrechte der Bürgerinnen und Bürger, auf der anderen Seite das Recht der AKW-Betreiber, ihre Reaktoren unbefristet zu betreiben. Jede weitere Verlängerung der Laufzeiten ist nun aber verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen.

Wo findet man die staatlichen Schutzpflichten im Grundgesetz?

Sie werden aus den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger abgeleitet – konkret aus den Grundrechten auf Leben, Gesundheit und Eigentum. Die Menschen haben nicht nur Abwehrrechte gegen staatliche Maßnahmen. Sie haben auch den Anspruch, dass der Staat sie vor Gefahren schützt, die von privaten Unternehmen ausgehen. Seit 1994 verlangt das Grundgesetz außerdem den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch für künftige Generationen.

Das Bundesverfassungsgericht lässt dem Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten bisher einen großen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Wollen Sie, dass künftig Verfassungsrichter Energiepolitik machen?

Nein, aber die Richter können nicht wegschauen, wenn der Staat seinen Pflichten über Jahrzehnte nicht nachkommt. Eine tragfähige, dauerhafte Entsorgungslösung ist heute – mehr als ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten des Atomgesetzes – nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Perspektiven wurden in den letzten Jahren sogar noch zweifelhafter. Da kann man ja wohl kaum zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen.

Und was ist mit dem Gestaltungsspielraum der Politik? Die Bundesregierung glaubt, dass die Schutzpflicht schon durch eine sichere Zwischenlagerung erfüllt ist – bis es irgendwann doch noch eine Endlagerung gibt …

Das Prinzip Hoffnung ist hier fehl am Platz. Es ist völlig unklar, ob es jemals ein tragfähiges Endlagerkonzept geben wird. Der Gestaltungsspielraum der Politik endet dort, wo Schutzpflichten dauerhaft verletzt werden.

Wenn man das Desaster im Atommülllager Asse II betrachtet, war es vielleicht ganz gut, dass man nicht schon in den Siebzigerjahren mit der Endlagerung von Brennstäben angefangen hat …

Mega-Menschenkette

■  Gegen den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke ruft ein breites Bündnis am 24. April zu einer „Aktions- und Menschenkette“ zwischen den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel auf. Für die 120 Kilometer lange Strecke, die quer durch Hamburg führt, werden mehrere 10.000 Menschen und diverse Fahrzeuge erwartet, sagte Mitorganisator Jochen Stay von der Initiative Ausgestrahlt.

■  Neben Umweltgruppen wie BUND und Deutscher Umwelthilfe beteiligt sich auch der Bundesverband Erneuerbare Energien sowie Ortsgruppen von IG Metall und Ver.di. Weil auch drei Parteien – Grüne, SPD und Linke – im Trägerkreis vertreten sind, beteiligt sich die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg nicht an der Planung, kommt aber dennoch mit einem Treck aus Gorleben zur Kette.

Mehr Infos: www.ausgestrahlt.de

Mag sein, aber das ist kein Grund, jetzt ohne Not zusätzlichen Atommüll zu produzieren.

Wer könnte in Karlsruhe gegen eine gesetzliche Verlängerung der Laufzeiten klagen?

Einen Antrag auf Normenkontrolle könnte jede Landesregierung oder ein Viertel der Bundestagsabgeordneten stellen.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH