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Archiv-Artikel

Nette Menschen, enge Verhältnisse

Zehn Jahre nach dem High-School-Abschluss kehrt ein Austauschschüler zurück nach Mississippi. Ein Besuch in der Vergangenheit

von PHILIPP DUDEK

„Ich hab 40 Kilo zugenommen und bin schwul“, hat mir Michael drei Wochen vor meiner Ankunft in einer E-Mail geschrieben. Vor zehn Jahren sind wir zusammen im Bundesstaat Mississippi auf die High School gegangen. Ich als deutscher Austauschschüler, Michael als Klassenbester. Dick war Michael schon damals. Schwul nicht. „Ich wohne seit zwei Jahren mit meinem Freund Matthew zusammen in einem kleinen Haus“, hat er geschrieben. Und dass er mich vom Flughafen abholen wird.

Gleich nach dem Schulabschluss hat Michael Mississippi verlassen. Weg von den Rednecks. So nennen die Nordstaatler die Südstaatler. Angeblich, weil sie von der Feldarbeit einen fiesen Sonnenbrand im Nacken haben. Tatsächlich sind in den Südstaaten rund zehn Prozent der Menschen arbeitslos. Auf den Feldern wird da nicht mehr viel gearbeitet. Die Südstaatler nennen die Nordstaatler Yankees. Meistens sagen sie aber nur, „die da oben“.

Michael hat in North Carolina studiert. Jetzt ist er 28 und Rechtsanwalt in Atlanta, Georgia. Auch ein Südstaat. Für Michael ist die Stadt eine Insel im Meer des Stumpfsinns: „Willkommen in Atlanta. Hier sind wir noch in der Zivilisation“, begrüßt er mich am Flughafen. Michael war noch nie ein großer Freund der Südstaaten, obwohl er hier sein ganzes Leben verbracht hat. „Das einzige, woran du merkst, dass du hier im Süden bist, ist die Freundlichkeit der Leute“, sagt er und das meint er ernst. In zwei Tagen wollen wir zusammen mit dem Auto nach Mississippi fahren, zum Klassentreffen. Zehn Jahre nach unserem Abschluss. Viereinhalb Stunden Fahrt sind es bis in die Kleinstadt Saltillo, wo wir zur Schule gegangen sind. „Noch näher dran muss ich wirklich nicht wohnen“, sagt Michael.

Seit 1995 haben sich die USA verändert. Überall im Flughafen begegnen wir Soldaten in sandfarbener Uniform, bepackt mit schweren Rucksäcken. Zuvor hatte ein höflicher Zollbeamter nach meinen Fingerabdrücken und einer Wohnadresse in den USA verlangt. „Bist du keiner von uns, könntest du schließlich gegen uns sein“, sagt Michael. „Da ist es besser, wir haben deine Fingerabdrücke.“ Schon vor zehn Jahren hat Michael dem Konservatismus, Puritanismus und Rassismus seiner Heimat vor allem Sarkasmus entgegengesetzt – und ein ehrliches Engagement für die Demokraten. Für ihn war Bill Clinton immer „Mr. President“, für Michaels Freunde war Clinton „die Pfeife mit dem Saxofon“.

Bist du liberal?“, war eine der ersten Fragen, die mir Michael stellte, als wir uns im Sommer 1994 kennen lernten. Liberal sein heißt in den USA so viel wie links sein. Aber „links“ ist man lieber nicht. Vor allem nicht im Süden. Da schwingt zu viel Sozialismus mit. Wenn man im Süden links ist, ist man liberal. Oder einfach das Gegenteil von konservativ. „Falls du liberal bist, wirst du es hier nicht immer leicht haben“, hat Michael gesagt. Zwei Monate später hatte ich verstanden, was er damit meinte. Im Religionsunterricht hatte ich angemerkt, dass Homosexualität keine Krankheit ist und Schwule und Lesben die gleichen Rechte haben sollten wie jeder andere Mensch auch. Zwei Breitschultrige aus dem Footballteam haben mir dann nach der Schule ihren Standpunkt zum Thema Homosexualität eingebläut. „Jesus würde auf dich spucken“, haben sie zu mir gesagt. Danach beschloss ich, nur noch sehr leise liberal zu sein.

„Dieses Land hat sich verändert“, sagt Michael. „Die Hälfte der Menschen hier ist bereit, ihre Persönlichkeitsrechte für ein bisschen vorgespielte Sicherheit einzutauschen. Das ist genau die Hälfte, die 2004 wieder für Bush gestimmt hat.“ Die andere Hälfte setzt sich nicht durch. „Alles Pussies“, sagt Michael. Der Junge war schon vor zehn Jahren ständig wütend. Heute ist er richtig sauer. Als Rechtsanwalt kämpft er seit mehr als einem Jahr für einen Ökostromkonzern. „Ehrliche Lobbyarbeit“ nennt er das. „Das Thema Ökologie musst du manchen Leuten richtig einhämmern.“

Michael fährt einen weißen Mini Cooper mit schwarzem Dach. Der verbraucht weniger Benzin und ist anders als die Autos, die man sonst so in Georgia oder Mississippi fährt. Zwei Tage später, an einer Tankstelle in Alabama, spricht uns eine alte Frau an. Ob wir das Auto selbst zusammengebaut hätten, fragt sie. So ein Auto habe sie noch nie gesehen, die gäbe es doch bestimmt nur in diesen Bausätzen. Sie selbst fährt einen Geländewagen.

„Wissen deine Eltern, dass du schwul bist?“, will ich später von Michael wissen. „Die ahnen das, aber sie wollen es nicht wissen. Deshalb haben wir auch noch nie darüber geredet.“ Seine Eltern glauben immer noch, Matthew wäre einfach ein Mitbewohner. „Ich hab auch keine Lust, mit ihnen darüber zu reden. Das ist schon okay so“, sagt Michael und dann sagt er nichts mehr.

Georgia, Alabama, Mississippi. Wir fahren durch den Bible Belt der USA. Vor zehn Jahren musste ich mich an die gelebte Frömmigkeit in den Südstaaten erst gewöhnen. Die Menschen gehen zweimal die Woche zur Kirche, Alkohol ist eine Erfindung des Teufels und die Rassentrennung gottgewollt. Als einige Klassenkameraden erfuhren, dass ich in einer katholischen Gegend Deutschlands aufgewachsen bin, haben sie mehr als einmal versucht, mich zum Protestantismus zu bekehren.

„Meine Eltern sind jetzt auch ziemlich religiös geworden“, sagt Michael. „Mein Vater wird nicht zu Hause sein, wenn ich ankomme. Der ist gerade in einem Jesus-Camp. Die übernachten irgendwo auf einem Feld und beten die ganze Zeit.“ Michael weiß nicht, wie er das finden soll. „Mein Vater liebt Jesus mehr als seinen Sohn“, sagt er und dann muss er ein bisschen lachen. Den Rest der Fahrt hören wir Country Music und Michael singt jedes Lied laut mit: „Ist doch irgendwie gut, dieser ganze Südstaatenkram. Die Leute sind nett, das Essen ist gut und die Musik kannst du auch besoffen noch mitsingen.“

In Mississippi angekommen, treffe ich nach zehn Jahren meine Gastmutter von damals wieder. Susie ist jetzt 70 und lebt alleine in einer kleinen Doppelhaushälfte am Ortsrand von Saltillo. 1995 hatte sie einen schwarzen Freund. Der hieß T. J. und kam sie immer nur heimlich, mitten in der Nacht, besuchen. Susie hatte Angst, dass ihr Vermieter sie rausschmeißen würde, wenn er mitbekäme, dass sie einen schwarzen Lebensgefährten hat. „Wir mussten Schluss machen. Es wurde einfach zu gefährlich“, sagt sie, als ich sie nach T. J. frage. Ihr wurde gekündigt und T. J. bekam Morddrohungen. „Es gibt eine Menge Hass in diesem Land“, sagt Susie.

In der Schule hatte ich einen schwarzen Sitznachbarn. Kenneth hat die meiste Zeit damit verbracht, mir Schimpfworte beizubringen. Was Kenneth jetzt macht, weiß niemand. Später sagt Michael: „Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, ist, dass er 100 Kilo wiegt und bei Walmart arbeitet.“ Die Weißen wissen nichts von den Schwarzen, die Schwarzen nichts von den Weißen. Das war vor zehn Jahren auch schon so. Aber jetzt wird überall darüber geredet – in Talkshows und in den Zeitungen. „Das liegt daran, dass die Schwarzen jetzt für einen kurzen Zeitraum die stärkste Minderheit im Land sind – bevor die Hispanics diese Rolle übernehmen werden“, sagt Michael. „Sie haben einen relativen Reichtum erwirtschaftet und Schwarze sitzen auf wichtigen Posten in Wirtschaft, Kultur und Politik und fordern so selbstverständlich wie noch nie ihre Rechte ein.“ Michael und Susie finden das gut. Einige unserer ehemaligen Klassenkameraden finden das nicht. Kein einziger Schwarzer wird zu unserem Klassentreffen erscheinen. „Ich bezweifle, dass sie überhaupt eingeladen waren“, sagt Michael später. Dabei war gut ein Drittel unserer Klasse schwarz.

Vor zehn Jahren fand ich es in Mississippi toll. Mississippi war für mich: weites Land, breite Straßen und aufgeschlossene Leute, die mich unglaublich oft zum Essen eingeladen haben. Jetzt fühle ich mich schon nach fünf Tagen eingeengt.

Ungefähr dreißig Leute finden sich am Abend in einem großen Haus am See mit Swimmingpool zum Klassentreffen ein. Die Hälfte unserer Abschlussklasse fehlt, aber aus meinem ehemaligen Freundeskreis sind alle gekommen. „Großartig, dass du da bist“, sagen sie zu mir. Und dann wird sich ganz viel umarmt und noch mehr getrunken und alles ist so wie vor zehn Jahren, als wir 18 waren und uns heimlich in einer Waldhütte betrinken mussten, weil man legal erst mit 21 Alkohol trinken darf. An diesem Abend ist Mississippi doch wieder ein bisschen weit und breit und aufgeschlossen.

Jeder und jede aus dem Freundeskreis ist mittlerweile verheiratet oder geschieden oder geschieden und wieder verheiratet. Die meisten haben zwei Kinder. Manche haben auch vier Kinder – aber von zwei verschiedenen Partnern. Diese Leute sind Ende zwanzig und haben die Beziehungskarrieren von 50-Jährigen hinter sich. Ich habe den Europa-Bonus, aber Michael wird mehr als einmal gefragt, ob er nicht endlich heiraten und Kinder kriegen möchte. „Ist grad nicht so gut“, sagt er.

Sex vor der Ehe geht in Mississippi überhaupt nicht. Zumindest theoretisch. Praktisch geht das schon. Dann aber nur mit schlechtem Gewissen nachts auf dem Rücksitz irgendwo abseits der Landstraße. Mit achtzehn war das für viele meiner Freunde ein Problem, weil sie sich am Sonntag danach in der Kirche dafür schämen mussten. Die religiöse Erziehung verhindert eine umfassende Aufklärung und sorgt für reihenweise ungewollte Schwangerschaften. Die Leute haben ihre High-School-Liebe geheiratet, weil sie endlich in einem Bett Sex haben wollen. Danach lassen sie sich scheiden. „Ich glaub nicht, dass Jesus das im Sinn gehabt hat“, sagt Michael mit einem Bier in der Hand, als ich ihn auf die vielen Geschiedenen anspreche. Auf der Party sind aber auch mindestens drei Paare, die seit zehn Jahren verheiratet sind und ganz und gar nicht unglücklich wirken. „Launen der Natur“, sagt Michael dazu.

„Weißt du, dieses Land ist ganz großartig. Es wäre aber noch großartiger, wenn es die Aufgesetztheit ablegen würde und endlich zu seinen Problemen stehen würde“, sagt er plötzlich und hält seine Bierdose in die Höhe, um die Freiheitsstatue zu simulieren. Ich nicke und dann betrinken wir uns und singen Country Musik.

PHILIPP DUDEK, 28, lebt als freier Journalist in Leipzig