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Archiv-Artikel

RESTRINGIERTER CODE Arbeiterkind

Die vornehme Gutachterin von der Stiftung half ihr nicht aus

Die ersten Hürden auf dem Weg zum Stipendium bei der Stiftung waren genommen. Nun sollte G. in einem Gespräch begutachtet werden. Die Begutachterwohnung lag in Frohnau und sah sehr schick aus. Die Begutachterin war distinguiert und elegant angezogen. Als G. die Wohnung betrat, hatte sie schon ein schlechtes Gefühl. Sie hatte sich nicht vorbereitet, sie hatte sich nicht überlegt, was gefragt werden könnte, sie war müde, weil sie erst am Vortag aus Brasilien zurückgekommen war, und weil sie in Brasilien gewesen war, hatte sie ein paar Wochen kein Deutsch gesprochen. Die Begutachterin fragte nach der politischen Lage in Mexiko, nach den innenpolitischen Themen, die in Deutschland gerade öffentlich verhandelt werden, und solche Dinge. Fieberhaft suchte G. in ihrem Kopf nach Antworten, aber es fiel ihr nichts ein, sie verhaspelte sich, blieb stecken. Ihre Gesten waren präzise; sie hatte ein feines Gespür für das, was falsch und posenhaft war, aber in ihrer Aufregung fehlten ihr nun die Worte, eine quälende Pause entstand. Die vornehme Gutachterin von der Stiftung half ihr nicht aus. Alles war schrecklich.

Ich verstand das gut, es ging mir ja genauso. In der Schule hatte mich mein Vertrauenslehrer, ein kleiner, schnauzbärtiger 68er aus Niedersachsen, der mit einem Schwung anderer 68er an unsere Schule gekommen war, bedauert, weil ich Armer doch leider nur über einen „restringierten Code“ verfügen würde. Weil ich doch Arbeiterkind bin, wo zu Hause nicht so viele verschiedene Worte gesprochen wurden. Werden. Würden.

Ich hatte gelacht und seine Ausdrucksweise irgendwie affig gefunden, aber das Gefühl, zu wenig Worte zu haben, habe ich eigentlich immer noch dauernd, wenn ich über irgendetwas schreiben soll. Dass mir die Fachbegriffe fehlen, um Sachen ganz genau beschreiben zu können. Darüber ärgere ich mich bis heute. DETLEF KUHLBRODT