piwik no script img

Archiv-Artikel

Selektive Wahrnehmung

Mit dem Muslim-Test werden Muslime zum größten Risikofaktor der Republik stilisiert. Das zeugt vor allem von Ressentiments. Die gesellschaftliche Realität ist eine andere

In der Muslim-Debatte erweist sich die Mehrheitsgesellschaft als erstaunlich frei von Selbstzweifeln

Das Bild der Deutschen von sich selbst hat sich dramatisch gewandelt. Es ist noch nicht allzu lange her, da herrschte Selbsthass und ein Gefühl der Minderwertigkeit vor. Wie viel schöner, freier, demokratischer, gleichberechtigter und toleranter ging es doch in den Nachbarländern zu.

Von diesen alten Selbstzweifeln ist heute nichts mehr zu spüren. Denn so viel scheint inzwischen Konsens zu sein: Verglichen mit den bigotten und frömmelnden USA ist der Citoyen hierzulande ein Leuchtturm der Vernunft und der Aufklärung. Und während in Frankreich die Vorstädte brennen, in Italien die Demokratie von Berlusconi zu Schanden geritten wird und die Niederlande irritiert vor dem Trümmerhaufen ihrer einst so gerühmten Toleranz stehen, gewinnen die Bürger in Deutschland an Selbstvertrauen in das, was sie sind: eine aufgeschlossene Gesellschaft, die sich zu den universalistischen Werten bekennt.

Tatsächlich ist dieses Land nicht mehr mit dem zu vergleichen, das es vor fünfzehn, zwanzig Jahren einmal war. Geschichte ist das Land, das noch 1991 zu einer Eruption xenophober Gewalt beharrlich schwieg. Geschichte ganz offensichtlich auch eine CDU, die gegen die Liberalisierung des Abtreibungsrechts, die Schwulen- und Lesbenehe und aktiver Gleichstellungspolitik Sturm lief.

Der so genannte Muslim-Test aus Baden-Württemberg bringt derzeit wohl am besten auf den Punkt, wie sich die Deutschen selbst gern sähen: das Denken frei von Sexismus, Antisemitismus und Rassismus; blind gegenüber Geschlecht, sexueller Orientierung und Ethnie; das Handeln orientiert am kategorischen Imperativ von Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

Kein Zweifel, eine Gesellschaft, deren Bürger diesen Maximen folgen, könnte eine bessere als die bestehende sein. Offensichtlich gibt es inzwischen bis weit in das christdemokratische Milieu hinein den tiefen Wunsch, das gesellschaftliche Sein möge dem idealen Welt- und Menschenbild entsprechen, auf das sich die Gesellschaft in mühsamen Auseinandersetzungen geeinigt hat. Schade nur, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit diesem neuen Selbstbild so wenig ähnelt. Rabiater Rassismus, militanter Rechtsextremismus, Antisemitismus, Gewalt gegenüber Schwulen und Frauen, Feme- und Ehrenmorde, Homophobie, Frauenhass – all das ist bundesrepublikanische Realität. All das wird ausgeübt nicht nur, aber vor allem von Männern deutscher und nichtdeutscher Herkunft. Auch wenn kein einziger muslimischer Mann in Deutschland lebte, würde keines dieser Probleme verschwinden, so viel ist gewiss. Zum Beleg dieser These genügt ein kurzer Blick in die Kriminalstatistik des nahezu muslimfreien Mecklenburg-Vorpommern.

Trotz dieser banalen Tatsache hat sich die öffentliche Debatte in Deutschland in den zurückliegenden Monaten auf männlich-aggressives und delinquentes Verhalten junger muslimischer Männer verengt. Sie scheinen es in erster Linie zu sein, die den zivilisatorischen Entwicklungsstand Deutschlands bedrohen und erreichte Fortschritte im Geschlechterverhältnis in Frage stellen. Jan Feddersen hat in seinem gestrigen Beitrag beispielhaft vorgeführt, wie mit Halbwahrheiten und selektiver Wahrnehmung das Stereotyp „muslimischer Mann“ konstruiert wird. So meint der Autor, die Besorgnis, gerade was Muslime betreffe, beruhe auf gesicherten empirischen Erkenntnissen. Als Beleg wird von ihm unter anderem angeführt, das Gros der Gewaltdelikte gegen Schwule und Lesben sowie Frauen ohne Kopftuch gehe auf das Konto von jungen Männern, deren Prägung eine muslimisch-patriarchale ist. Eine gewagte These.

Bei den Übergriffen gegen Schwule, die in den fünf neuen Ländern in den letzten zehn Jahren zwischen Rügen und dem Erzgebirge verübt wurden, waren „muslimisch-patriarchal“ geprägte junge Männer nur peripher beteiligt. Man kann dieses Argument mit dem Verweis, dort lebten ja auch keine solchen Jugendlichen, als spitzfindig abtun. Umgekehrt gilt allerdings auch, dass in den Berliner Innenstadt- und Einwandererbezirken wie Schöneberg, Wedding und Neukölln, in denen Feddersens Beobachtung tatsächlich zutrifft, kaum junge Männer aus altdeutschen Familien und vergleichbaren Sozialmilieus leben. In anderen Bezirken wie Berlin-Marzahn oder Berlin-Hellerdorf geht Gewalt gegen Schwule dagegen häufig von (christlichen) russlanddeutschen Jungmännern oder rechten altdeutschen Jugendlichen aus.

Die gesellschaftliche Realität ist komplexer, als es die etwas grobschlächtigen Analysen des aktuellen Muslimdiskurses nahe legen. Dies festzustellen bedeutet nicht, in einem Umkehrschluss Realitäten zu leugnen. Ja, es gibt Ehrenmorde, Zwangsheiraten, arrangierte Ehen, die Unterdrückung und sexuelle Bevormundung von Mädchen und Frauen. Diese Missstände sind anzuklagen und Projekte, die Emanzipationsprozesse fördern, aufzubauen. Sozialarbeiter, Lehrer, Gewerkschafter und Jugendarbeiter im interkulturellen Bereich tun dies seit Jahren. Ihre Forderungen nach mehr öffentlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung dieser wichtigen Arbeit scheiterten allerdings nicht an multikulturellen Traumtänzern aus dem grünen und linksliberalen Milieu, wie es die Soziologin Necla Kelek gelegentlich behauptet. Es waren gerade die Konservativen, die sich heute gern auf Kelek beziehen, die diese Arbeit über Jahre ignorierten und als überflüssigen Sozialklimbim abgetan haben. Gleichzeitig weigerten sie sich, Verfolgung auf Grund der sexuellen Orientierung als Fluchtgrund anzuerkennen oder misshandelten Ehefrauen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zuzugestehen. Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und die Partei der Grünen wissen ein Lied davon zu singen.

Natürlich müssen Zwangsehen und Ehrenmorde bekämpft werden. Die Ideen dafür gibt es

Irritierend ist nicht, dass über Inakzeptables in der muslimischen Community geredet wird. Irritierend sind die Pauschalisierungen und die Ausschließlichkeit, mit der ganze Problemfelder auf Muslime verlagert werden. Angesichts der aktuellen Problembeschreibungen könnte man etwa ganz vergessen, dass nach wie vor über 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten von Deutschen verübt werden.

Vieles spricht dafür, dass der Muslimdiskurs mit seinen so offensichtlich kulturalistischen Konstruktionen vor allem eine Selbstverständnisdiskussion der Mehrheitsgesellschaft ist. Je mehr des Bösen, Normabweichenden und Inkorrekten auf das Muslimische projiziert wird, desto heller, reiner und entwickelter erscheint das Selbst. Das ist eine einfache Wahrheit aus der Vorurteilsforschung. Eine weitere lautet: Eine Kultur des Ressentiments hat noch immer Repression und Gewalt der Mehrheit gegenüber der Minderheit zur Folge gehabt. Schon aus diesem Grund gebietet es der demokratische Anstand, den Muslim-Test in die Mülltonne der Geschichte zu treten. Real existierende Probleme löst man besser ohne. EBERHARD SEIDEL