: Urknall in 85 Minuten
TANZSZENE Der belgische Choreograf Wim Vandekeybus gastiert mit seiner Kompanie im HAU. Sein Stück „NieuwZwart“ betört und verstört zugleich
Crash! Zu Beginn steht die Performerin Kylie Walters an der Rampe, die weißblonden Haare stehen ihr zu Berge, wie in einem Schockmoment festgefroren. Dann das laute Geräusch eines Zusammenpralls, Autounfall vielleicht. Ein Sterbensmoment. Doch nicht die Bilder eines individuellen Lebens laufen nun wie im Film vorbei, sondern Wiedergeburtsszenarien, eine Art konzentrierte Geschichte der Menschwerdung.
Es ist, als würde die Zeit zwischen Urknall und Weltenende auf einen schmalen Spalt zusammenschnurren. Auf ebenjene 85 Minuten, die Wim Vandekeybus’ jüngste, zurzeit im Hebbel am Ufer gezeigte Tanzkreation „NieuwZwart“ dauert. „Neues Schwarz“ lautet der Titel auf Deutsch. Zwischen Anfangs- und Endzeit sehen wir: das pure Leben. Energie, die sich Bahn bricht – und was für eine! In die Existenz geworfene Kreaturen, die die Evolution im Zeitraffer durchlaufen.
Unter einer riesigen Goldfolie kriechen die Tänzer hervor, nackt. Sie krümmen sich wie hilflose Neugeborene unter den Neonlichtern, mit denen drei Forschungsreisende ihre Körper ableuchten. Sie wimmern, schreien, winden sich, werden beklopft und befühlt. Wie Versuchstiere. Sind wir in der Hölle oder auf Erden? In Guantánamo, auf einem fernen Stern oder in einer mit Science-Fiction-Düsternis angefüllten Zukunft?
„This is the floor, where we lie as children. This is where we learn to walk“, sagt Walters, die den Abend mit Texten des flämischen Autors Peter Verhelst begleitet. Wir befinden uns in einem Zwischenreich, an jenem Ort vielleicht, woher wir kommen und wohin wir gehen. Stätte von Wiedergeburt und Verwandlung. Hinten ist die Bühne mit einer schwarzen Plane abgehängt, und der Boden ist übersät mit schwarzen Löchern. Auf halber Höhe schwebt eine Hängebühne, von der aus die drei Musiker Mauro Pawlowski (auch für die Komposition verantwortlich), Elko Blijweert und Jeroen Stevens, eben noch jene Forschungsreisende, das Geschehen mit dunkel-dröhnender Rockmusik überschatten.
Wim Vandekeybus ist einer der großen Namen der europäischen Tanzszene und neben Alain Platel und Anne Teresa De Keersmaeker der wohl wichtigste Choreograf Belgiens. Lange ist seine Kompanie Ultima Vez (spanisch für „das letzte Mal“) nicht mehr in Berlin gewesen, zuletzt 2003 mit „Blush“, beim Sommergroßfestival Tanz im August. Jetzt veredelt sie das kleinere, zum siebten Mal stattfindende Context-Festival im Hebbel am Ufer, das sein Programm diesmal unter den Titel „Anästhesie der Gefühle“ stellt.
2006, zum 20-jährigen Jubiläum seiner Truppe, hatte Vandekeybus das Retrospektiv-Best-of-Stück „Spiegel“ entworfen, danach hat er das Ensemble ganz neu zusammengesetzt – und das tänzerische Ergebnis ist: grandios! Auch wenn die dramaturgische Konzeption nicht jeden überzeugen mag, dem Sog dieser furiosen jungen Tänzer kann man sich schwerlich entziehen. Zum Atemanhalten, wie sich Tanja Marín Fridjónsdóttir, Dawid Lorenc, Bénédicte Mottart, Olivier Mathieu, Máté Mészáros, Ulrike Reinbott und Imre Vass verausgaben, wie ihnen die extremen, schonungslosen, bisweilen brutalen Vandekeybus-Bewegungen geradezu weich durch die Glieder fließen. Beweglich und überaus schnell sind sie, wie wendige, nervös zuckende Tiere: Insekten, Raubkatzen, Affen, wilde Wesen, Figuren des Unterbewussten und der Triebe. Und insofern typische Vandekeybus-Geschöpfe.
Am Anfang wirkt es, als habe der Mensch nie gelernt, auf zwei Beinen zu gehen, die nackten Tänzer springen, wirbeln als Vierfüßer vorwärts. Und auch wenn sie dann allmählich aufrecht gehen und in Kleider schlüpfen, bleiben sie dem Animalischen verhaftet. Eine beinahe heitere Balzszene steht da zwischen aggressiven Kampfbildern, in denen die Körper aufeinanderprallen, sich ineinander verkeilen, aber sich dann auch wieder gegenseitig auffangen, tragen. „We perform thousand year old movements“, heißt es in Verhelsts raunendem Text, der von Zusammenstößen zwischen Mensch und Natur erzählt, von (Alb-)Traumlandschaften, in denen man Bäume erklimmt und sich von Bergen herabstürzt, diese dann auf den Rücken stemmt und sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht – Urbilder, Archaik, Bedrohungsszenarien, in denen vage die ökologischen Katastrophen unserer Zeit und Zukunft mithallen. Das Neue Schwarz, es ist verstörend und betörend zugleich. ANNE PETER
■ „NieuwZwart“ von Wim Vandekeybus/Ultima Vez; Hebbel am Ufer 1, heute, 19.30 Uhr