: Schluss mit Gedöns
Das großes Ziel des Parteivorstands ist schlicht die grundlegende Erneuerung der sozialen Idee
Aus Mainz Jens König
„Noch immer entscheidet die Herkunft eines Menschen erheblich über seine Bildungschancen und damit über seine späteren Aussichten am Arbeitsmarkt.“ Ja, das ist so eine dieser Aussagen, die jeder vernünftige Mensch sofort unterschreiben kann. Und die Schlussfolgerung daraus klingt auch überzeugend. „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Entscheidend für die Zukunft unseres Landes ist es aber, diese drei Grundwerte wieder zu einem harmonischen Dreiklang zusammenführen.“
Diese sozialdemokratischen Sätze stehen in der „Mainzer Erklärung“, aufgeschrieben von der Partei, die für eine neue Gerechtigkeit in diesem Land sorgen will: Nein, das ist in diesem Fall nicht die SPD, sondern – die CDU. Verabschiedet wurde diese Erklärung am 7. Januar 2006 bei der Vorstandsklausur der Christdemokraten. Nur ein paar Tage später trifft sich die SPD-Führung ebenfalls zur Klausur in Mainz und diskutiert die politische Kardinalfrage: Wie kann, jenseits des Glücksversprechens des alten Sozialstaats, soziale Gerechtigkeit in diesem Land hergestellt werden?
Die Austauschbarkeit der Sätze von CDU und SPD markiert dabei auf den ersten Blick das Grundproblem beider Parteien: Wie unterscheiden sie sich noch voneinander, gerade jetzt, wo sie in einer großen Koalition vereint sind und CDU-Chefin Angela Merkel schnell gelernt hat, dass mit reinem Marktradikalismus in Deutschland kein Staat zu machen ist? Auf den zweiten Blick könnte man natürlich ausmachen, dass die CDU die soziale Idee der SPD einfach nur kopiert. Hubertus Heil, der junge SPD-Generalsekretär, behauptet das. Er bezeichnet die Suche der CDU nach „neuer Gerechtigkeit“ als „Camouflage“ und gibt sich gelassen: „Die Menschen wählen Originale und nicht Kopien.“
Aber Heil und vor allem sein Parteichef Matthias Platzeck sind zu intelligent, um zu glauben, die SPD könne mit solchen simplen Erklärungen irgendeinen Blumentopf gewinnen. Da genügt ein Blick in die Meinungsumfragen: Die Sozialdemokraten sitzen im 30-Prozent-Loch fest. Und so verordnen Platzeck und Heil der Partei eine politische Grundsatzdebatte, die nichts weniger zum Ziel hat, als die Idee der sozialen Gerechtigkeit grundlegend zu erneuern. Sie entwerfen dabei, wenn auch etwas wolkig, das Bild einer neuen SPD, die „nicht nostalgisch an uneinlösbar gewordenen Sicherheitsversprechen von vorgestern“ (Platzeck) festhält, die sich aber auch nicht auf die „fahrlässigen Verheißungen der marktradikalen Ideologie“ verlässt. Der Grundgedanke dabei: Soziale Gerechtigkeit soll mit wirtschaftlicher Dynamik Hand in Hand gehen. Der Schlüssel dafür: Bildungschancen für alle, mehr Kinder, fortschrittliche Familienpolitik.
Das Vorbild dieser sozialen Leitidee ist Skandinavien, insbesondere Finnland. Bildung und Familie sind, so verstanden, kein „Gedöns“, wie ein gewisser Gerhard Schröder gern spottete, und auch „kein Thema für den Kirchentag“, wie Heil klarstellt, sondern – harte Politik. In Platzecks Worten: „Es ist die soziale Gerechtigkeitsfrage des 21. Jahrhunderts, ob es uns gelingt, gute und gleiche Bildungschancen für alle zu organisieren.“
Die Konsequenz, die der Parteichef daraus zieht: Die SPD muss Deutschlands Bildungspartei sein. Und die Kinder- und Familienpartei. Deswegen kennt das Grundsatzpapier, das der Vorstand bei seiner Klausur in Mainz beschlossen hat, nur ein Thema: Bildung und Familie. Unter den Überschrift „Wir sichern Deutschlands Zukunft“ lautet, programmatisch etwas ungewohnt, der erste Satz: „Wir wollen, dass in unserem Land wieder mehr Kinder geboren werden.“ Was dann folgt, ist keine Aufzählung revolutionärer Gedanken, aber vor dem Hintergrund der neuen Leitidee erscheint bisher Bekanntes in einem anderen Licht.
Kinder zu bekommen, heißt es, sei „die entscheidende Grundlage für Lebenszufriedenheit“. Und an der Steigerung dieser Zufriedenheit soll gearbeitet werden. Konkrete Forderungen lauten: Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz mit Beginn des zweiten Lebensjahrs; Beitragsfreiheit für das letzte Kindergartenjahr, wie es ab 2006 in Rheinland-Pfalz praktiziert wird; 230.000 zusätzliche Betreuungsplätze für unter Dreijährige in Krippen und Kindergärten; Erhöhung der pädagogischen Standards in den Kitas; Ausbau der Ganztagsschulen. Außerdem will die SPD einen Beschluss der Kabinettsklausur von Genshagen revidieren: Die Kitakosten für Kinder bis 6 Jahre sollen jetzt doch ab dem ersten Euro – und nicht erst ab 1.000 Euro – steuerlich absetzbar sein.
Dass die Sozialdemokraten einen wichtigen Hebel zur Umsetzung solcher Pläne aus der Hand gegeben haben, darüber reden sie nicht so gern: Bei der Föderalismusreform degradierten sie, ganz im Sinne der Union, Bildung zur alleinigen Angelegenheit der Länder.
Überhaupt haben Matthias Platzeck und Hubertus Heil mit ihrem Vorstoß von Mainz mehr die programmatische Grundausrichtung als die konkrete Tagespolitik im Auge. Die Vorarbeiten der Schröder-Müntefering-SPD zum neuen Grundsatzprogramm werden deswegen weitgehend über den Haufen geworfen.
Platzeck will der SPD für die Neuorientierung noch einmal bis Herbst 2007 Zeit geben, erst dann soll das Programm auf einem Parteitag endgültig beschlossen werden.
SPD-Chef Platzeck hat seiner Partei einen neuen Diskussionsstil verordnet. Es stimmt, wenn er sagt, dass die Partei in Mainz nicht die „alten Grabenkämpfe“ ausgetragen hat. Aber der Verdacht, er rede nur luftig und pathetisch daher wie Labour-Chef Tony Blair, begleitet den SPD-Vorsitzenden immer noch. „Der Parteichef muss deutlich machen, mit welchen Rezepten die SPD die Arbeitslosigkeit bekämpfen will“, fordert der Linke Ottmar Schreiner. „Da besteht großer Nachholbedarf.“