Und woher kriegt man eine Stadt mit X?

MOSSE LECTURES Wie naiv doch die Liebe zur orangenen Revolution in der Ukraine war: Jurij Andruchowytsch las aus seiner im Entstehen begriffenen Städte-Enzyklopädie die Kapitel K wie Kiew und B wie Berlin

Am Donnerstag um 19 Uhr „c.t.“ ist der Senatssaal im Hauptgebäude der Berliner Humboldtuniversität bereits voll. Als ein weiteres akademisches Viertel später auch die vielen als „reserviert“ gekennzeichneten Plätze besetzt sind, kann die Veranstaltung beginnen.

Im Rahmen der Mosse Lectures war Jurij Andruchowytsch aus dem ukrainischen Iwano-Frankiwsk eingeladen, er stellte im Gespräch mit Sylvia Sasse unter dem Titel „Das geopoetische Lexikon: eine intime Städtekunde“ seinen in Arbeit begriffenen neuen Roman vor. Ein Roman in Enzyklopädieform. Dass der Name von Andruchowytsch, immerhin einem der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller, in der Einleitung immer wieder vom deutschen Kauderwelsch entstellt wird, steckt der Gast locker weg. Denn sein Deutsch ist perfekt, der sprachliche Witz zum Niederknien. Sasse hat es schwer, das Gespräch in Bahnen zu halten.

In Anlehnung an den russischen Schriftstellerkollegen Igor Sid bezeichnet Andruchowytsch sein literarisches Verfahren als Geopoetik. Geopoetik steht für die Erschließung literarischer und fantastischer Räume genauso wie die (Wieder-)Herstellung realer Räume durch ihre literarische Benennung. Die Ukraine, ein „Grenzland“ im Wortsinn, eine „150 Jahre alte Erfindung“, zeige exemplarisch, wie sich Fiktion und geografische Fakten verwischten. „Ich kann nicht anders, als Desinformation zu verbreiten“, sagt Andruchowytsch.

Die Passion für Grenzüberschreitungen hat ihn nun zur Arbeit an der alphabetisch zu ordnenden Enzyklopädie von Städten gebracht. 111 sollen es sein, eine Zahl, die nicht unbedingt aus Wahrheitsliebe gewählt wurde. Er stehe folglich einer Reihe „alphabetischer Probleme“ gegenüber und trage sich mit dem Gedanken, nach China zu reisen, um eine Stadt mit „X“ – einem Buchstaben, den das ukrainische Alphabet nicht kennt – ausfindig zu machen, denn ein Besuch im deutschen Xanten lohne sich nicht. Solche Sätze lassen das Publikum laut auflachen.

Schließlich drängt Sasse den Gast, aus seiner Enzyklopädie vorzulesen. Andruchowytsch wählte „K“ für Kiew und „B“ für Berlin. Der Kiew-Text liegt in drei Varianten vor: einer aus dem Jahr 1999, einer aus der Zeit der „Orangen Revolution“ 2004 und einer aus dem vergangenen Jahr. Die Texte zeugen von Andruchowytschs zwiespältiger Haltung Heimatstadt und -land gegenüber, die er mit dem etwas abgelutschten Wort Hassliebe bezeichnet. Der Text von 2004 ist euphorisch: Kiew – Austragungsort „der schönsten Revolution“. Kaum vier Jahre später bezeichnet er die Demonstrationen als naiv. Die Widersprüchlichkeit dieser Texte ist aufstörend.

Von seinem Berlintext kann man das leider nicht behaupten. Kein Klischee blieb ausgespart. Seine ironielose Typisierung Berliner Straßenmusikanten in slawisch (gut, studiert, zurückhaltend) und „dunkel“ (schlecht spielend, unverschämt, gerissen) hinterließ nur einen schlechten Beigeschmack. SONJA VOGEL