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Archiv-Artikel

„Die Platzeck-SPD setzt auf Werte“

Die SPD visiert eine neue Form von Wohlfahrtsstaat an, der sich auf Bildung konzentriert. Das sieht etwas diffus aus, ist aber taktisch und auch langfristig sinnvoll, um die SPD neu zu positionieren, meint der Parteienforscher Uwe Jun

taz: Herr Jun, was will Matthias Platzeck mit der SPD?

Uwe Jun: Er ist dabei, die Partei programmatisch neu zu justieren. Die Richtung ist klar: Das Sozioökonomische, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, rückt in den Hintergrund, kulturelle Werte rücken in den Vordergrund. Platzeck hat erkannt, dass die SPD bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik an enge Grenzen stößt.

Warum?

Weil sie mit Linkspartei und Grünen konkurriert und gleichzeitig in der großen Koalition eingebunden ist. Das bringt die SPD stets in eine schwierige Lage, in der sie die Balance halten muss.

Die SPD will Bildung und Familie fördern – wie alle. Wie kann das als Alleinstellungsmerkmal funktionieren?

Das kann es nicht. Aber die SPD kann in der großen Koalition kaum ein Alleinstellungsmerkmal entwickeln. Deshalb versucht sie, auf allen Ebenen Wähler anzusprechen. Das ist anders als bei Schröder, der ein Thema definiert hat, mit dem die SPD antreten sollte. Platzeck und Heil arbeiten mit Mosaiksteinchen.

Das ist die Inszenierungsstrategie der SPD …

Nein, nicht nur. Platzeck zielt auf eine neue, wertezentrierte Identität der Sozialdemokratie.

Viele halten das für folgenlose Feel-good-Rhetorik …

Das ist der Versuch, die Parteiströmungen zu integrieren. Platzeck hat Schröder vor Augen, dem die Integration der Partei misslungen ist. Deshalb sucht er nach Themen, die verbinden.

In der Mainzer Erklärung der SPD heißt es, Kinder zu haben sei „die entscheidende Grundlage für Lebenszufriedenheit“. Das Glück nur in der Familie – das klingt nach 50er-Jahren?

So ist es nicht gemeint. Die SPD hat sich doch von dem klassischen Familienverständnis gelöst und verstanden, dass Familie da ist, wo ein Kind ist. Ich finde, diese Formulierung passt in das Wertekonzept und zu der Frage, was die Gesellschaft zusammenhält. Zu den Klammern der Gesellschaft gehören Kinder bzw. kinderfreundlichere Verhältnisse. Und auch bessere Bildung.

Aber Bildung muss der Staat bezahlen können. Die SPD hat die Steuern für Unternehmen gesenkt bzw. schaut ohnmächtig zu, wenn Konzerne ihre Steuern in Deutschland gegen null rechnen. Dazu hört man von Platzeck nichts. Warum?

Weil er weiß, dass es sonst Konflikte mit der Union gibt. Auch innerparteilich ist das nicht der passende Zeitpunkt.

Wie lange lässt sich die SPD-Linke diesen Kuschel-Werte-Kurs gefallen?

Noch eine Weile. Die Linken sind eher schwach, fast paralysiert. Das hat der Rückzug von Andrea Nahles verdeutlicht. Zum anderen wird die Linke, selbst wenn sie es könnte, lange zögern, daran mitzuwirken, wieder einen SPD-Vorsitzenden abzuschießen. Allerdings hängt mittelfristig viel von den Landtagswahlen ab. Wenn die SPD da verliert, kommt Platzeck unter Beschuss. Das ist ganz normal.

Platzeck will die Programmdebatte der SPD vorantreiben. Warum?

Das ist überfällig. Schröder hat 1999 damit begonnen, Platzeck will diesen Prozess abschließen.

Braucht die SPD nicht eine umfassende Debatte? Wenn es die Verteilungsgerechtigkeit der 70er-Jahre so nicht mehr gibt – was kommt dann? Nur diffus über Werte reden – das wird nicht reichen.

Das hat man ja auch Tony Blair vorgeworfen – zu Unrecht. Platzeck sagt zu Recht, die Globalisierung macht uns nicht alternativlos. Wir können, trotz mehr Wettbewerb der Staaten, einen neuen europäischen Wohlfahrtsstaat haben …

Was ist das?

Ein Staat, der nicht nur für die Bedüftigen da ist, sondern in den Bereichen Bildung und Kinder bis in die Mittelschichten hineinwirkt. Allerdings kann Politik Wirtschaft weniger beeinflussen als früher. Deshalb muss sich die Politik auf weichere Felder verlegen, wo sie etwas ändern kann.

Das klingt nach einer vertuschten Kapitulation: Weil die Politik ökonomisch nicht mehr viel tun kann, redet man über Bildung …

Nein. Die SPD baut nur keine Scheinwelt auf. Die Linkspartei proklamiert Dinge, die in globalisierten Verhältnissen nicht funktioniert. Die SPD hingegen redet derzeit nur über Forderung, die die Politik im Nationalstaat auch umsetzen kann.

Und wo bleibt die Gerechtigkeit? Für die SPD ist das doch, anders als für die Union, ein Schlüsselbegriff …

In der Tat hat kaum eine europäische Sozialdemokratie es geschafft hat, Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung überzeugend neu zu definieren. Platzeck schaut nach Skandinavien: Er setzt auf den handlungsfähigen Staat plus mehr Eigenverantwortung. Damit ist er auch auf Schröders Spuren. Die SPD wird, angesichts leerer Kassen, nicht hinter die Agenda 2010 zurückfallen.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE