: Jetzt darf jeder über Kitas quatschen
Alle Parteien beteiligen sich derzeit am großen Wünsch-dir-Was in Deutschlands Kindergärten. Union und SPD versprechen kostenlose Betreuung. Doch in Wahrheit reichen sie die Probleme nur nach unten weiter – an die Länder und Kommunen
AUS BERLIN KERSTIN SPECKNER UND CHRISTIAN FÜLLER
Die neue Maxime in der Kinderdiskussion heißt: Jetzt darf jeder mal was zu Kita und Kindergarten sagen, egal was. Nach Ursula von der Leyens Ruf nach der Gratis-Kita sind die Details der Debatte ein bisschen unübersichtlich geworden. Allerdings zeichnen sich bei Sozial- wie Christdemokraten Parallelen ab. In beiden Parteien reichen die Verlogenheitsketten von ganz oben bis weit nach unten.
Beispiel CDU. Familienministerin Ursula von der Leyen möchte Kindergärten gebührenfrei haben. Weil sie als Bundesministerin dafür keinerlei Zuständigkeit hat, ruft sie die Länder in die Pflicht. Und lächelt.
Von dort lächelt, etwa aus Hessen, die Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) zurück. Und findet die Idee mit der Kost-nix-Kita gleichfalls prima. Auch sie aber delegiert den Job weiter, an die Kommunen. Die seien zuständig. In Kassel, das gerade über die Abschaffung der Kitagebühren nachdenkt, sitzt Jugenddezernentin Anne Janz. Und lächelt nicht. „Kitas kostenlos zu machen ist richtig“, sagt Janz. „Das Problem ist nur, dass alle Sonntagsreden halten – und montags alles widerrufen. Da schwillt mir die Wutader“, sagt die Grüne.
Auf Deutsch: Kassel könnte sich die Freigabe seiner rund 5.000 Kindergartenplätze nicht leisten, weil Anne Janz dafür 3,6 Millionen Euro bräuchte. Die die Kommune nicht hat. Selbst als die Dezernentin Geld, das die Bundesfamilienministerin ausdrücklich für Kitas vorsieht, in den Haushalt einstellen wollte, scheiterte sie. Der übergeordnete Regierungspräsident, ein Unionsmann, untersagte, davon Kitaplätze zu errichten. Verrückt. Der Soziologe Ulrich Beck hat für solcherlei Verwaltungsunsinn den Begriff „organisierte Unverantwortlichkeit“ geprägt.
Beispiel SPD: Um ihren neuen Politikschwerpunkt Bildung und Familie zu unterstreichen, rückte der SPD-Vorstand von Kabinettsbeschlüssen ab. Danach sollen arbeitende Eltern von Kindern bis sechs Jahren ab dem ersten Euro bis 4.000 Euro Betreuungskosten von der Steuer absetzen können. Das würde den Kitabesuch für den Mittelstand praktisch kostenfrei machen.
Dazu gab es gestern diverse kakophonische Wider- und Zusprüche. Die CDU bat die SPD, „die Gießkanne im Schuppen zu lassen“, die CSU fand die Idee gar nicht schlecht, und SPD-Fraktionschef Peter Struck drehte ganz wilde Kreisel. Von der Leyens Vorschlag der Umsonst-Kita sei vorwitzig, rüpelte er, und der Beschlusswechsel seiner eigenen, der SPD-Leute dürfe eben nicht teurer als 460 Millionen Euro kommen. Bei Struck hört man eigentlich nur eins raus: Das mit dem SPD-Schwerpunkt Bildung war nicht so ernst gemeint.
Kassel übrigens geht jetzt eigene Wege. Die Stadt befreit das 3. Kinderjahr von den Gebühren. Aber nur für 6-jährige. Das kostet die Kommune 200.000 Euro, kommt aber eben nur einem Bruchteil zugute. „Es bleibt aber mein politisches Ziel, die Kitagebühren schrittweise abzuschaffen“, sagte Kassels OB Bertram Hilgen gestern der taz. Auch er ist Sozialdemokrat.