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Archiv-Artikel

In der Psychofalle

Annette Dytrt verpasst mit Rang zehn bei der Eiskunstlauf-EM die Olympiaqualifikation – alsGrund für ihren nervösen Auftritt nennt sie die Anwesenheit ihrer ehemaligen Trainerin in Lyon

„Lyon soll schön sein – besonders bei Regen.“ Die Trainerin von Annette Dytrt fragt sich, was ihre Vorgängerin bei der EM will

AUS LYON ANDREAS WAGNER

Als Annette Dytrt (22) am Donnerstagabend das Eis im Palais des Sports in Lyon verließ, hatte sie ihr Ziel nicht erreicht. Sie stand minutenlang im Flur hinter der Tränenecke, drückte einen Plüschteddy fest an ihren Bauch und sprach gefasst über ihren zehnten Platz bei den Eiskunstlauf-Europameisterschaften. Sie hätte Achte werden müssen, um sich für die Olympischen Spiele in Turin im Februar zu qualifizieren. So schlimm schien das aber nicht zu sein. Ihre Fassung verlor sie erst als sie auf ihre ehemalige Trainerin Shanetta Folle angesprochen wurde. Dytrt fing an zu weinen und lief weg.

Die vergangenen Tage in Lyon, in denen die Russin Irina Slutskaya ihren EM-Titel verteidigte, waren schwer für die zierliche Dytrt, denn sie wurde offensichtlich von ihrer ehemaligen Trainerin unter Druck gesetzt. Folle schien sie zu verfolgen, und Dytrt konnte mit dem Druck nicht umgehen. Ihre neue Trainerin, die Erfurterin Ilona Schindler, sprach von „psychologischer Kriegsführung“.

Eigentlich war Annette Dytrt vor drei Wochen zu Schindler gewechselt, um sich von Shanetta Folle, die Dytrt zu vier deutschen Meistertiteln verhalf, zu emanzipieren. Doch jetzt verfolgt sie die Vergangenheit. „Es fiel mir sehr schwer, hier zu laufen, weil sie in Lyon ist“, sagte Dytrt und kämpfte dabei mit den Tränen. „Annette konnte sich nicht mehr konzentrieren“, schimpfte Schindler, „dabei arbeitet Folle für Deutschland. Das heißt, sie sollte mithelfen, die Ziele zu erreichen.“

Stattdessen habe sie die Läuferin verfolgt. In der Tat mutet es seltsam an, dass Folle frühmorgens in die Trainingshalle fuhr, um Dytrts Übungseinheiten zu verfolgen. Sie stand dabei direkt an der Bande. Anschließend benutzte sie den gleichen Shuttle-Bus, stieg kurze Zeit nach Dytrt ein und lächelte, als sie in Dytrts Richtung blickte. Und beim Wettkampf positionierte sich die Extrainerin ganz nah an der Bande. „Ich habe versucht, Annette abzuschotten, aber ganz geht es natürlich nicht“, sagte Schindler. Früher soll Folle einmal zu ihrer Athletin gesagt haben, die Läuferin Dytrt sei nichts ohne die Trainerin Folle.

Annette Dytrt und ihr neues Umfeld verstanden nicht, warum Folle überhaupt in Lyon anwesend war. „Sie hat keine Aufgabe hier, ich weiß nicht, warum sie da ist“, sagte die Athletin. Ilona Schindler wurde sogar ironisch: „Vielleicht will sie die Stadt sehen, Lyon soll schön sein – besonders bei Regen.“ Offiziell ist Folle, die immer noch in München wohnt, als Assistentin der russischen Startrainerin Tatjana Tarasowa gemeldet. Zu den Vorwürfen nahm sie keine Stellung, sie gab sich zu beschäftigt dazu.

Vorwürfe gab es genug. Schindler kritisierte sogar die Zusammenstellung von Dytrts Kür, für die Folle verantwortlich ist. „Das Programm ist überhaupt nicht auf das neue Wertungssystem ausgerichtet“, sagte die Erfurterin, „Annette muss in Zukunft mehr Kombinationen springen. Im Moment rennt sie nur im Kreis herum, ich muss ihr zeigen, dass es auch anders geht.“ Im Kreis rennen – der Ausdruck passt perfekt in Dytrts Situation. Die Zeit sei vor der EM aber zu kurz gewesen, um etwas am Programm zu verändern. Immerhin sah Schindler auch Fortschritte bei ihrem Schützling: „Der Auftritt bei ihrer Kür war um 90 Prozent besser als das, was ich im Training von ihr gesehen habe.“ Und überhaupt: Dytrts zehnter Platz ist für die Deutsche Eislauf-Union (DEU) fast genau so bedeutend wie der achte Rang gewesen wäre. Denn eine Olympiateilnahme von Deutschlands bester Läuferin wäre zwar zweifellos für sie eine schöne Erfahrung gewesen, für die weitere Zukunft ist der zehnte Rang genauso ein Segen.

Bei den nächsten Europameisterschaften in Warschau 2007 dürfen dank Dytrts Platzierung in Lyon nämlich zwei deutsche Starterinnen teilnehmen. Erstmals seit Jahren. So gesehen hat Annette Dytrt endlich das geschafft, wofür sie seit Jahren kämpft: Sie hat die für die Vermarktung so wichtige Frauendisziplin in Deutschland gestärkt. „Und sie hat auf jeden Fall noch Potenzial“, sagt Ilona Schindler. Dytrt selbst sieht ebenfalls positiv in die Zukunft: „Wir müssen ein neues Programm zusammenstellen“, so die Sportsoldatin, „denn die Sprünge kann ich ja.“ Als sie diese Worte ausspricht, sind die Tränen einem Lächeln gewichen. Annette Dytrt zeigt sich von ihrer kämpferischen Seite. „Bis zur Weltmeisterschaft im März“, sagt Trainerin Schindler, „wird ihr der Psychostress auch nicht mehr so viel ausmachen.“