: Auf Rentier-Safari in der Unendlichkeit
Speziell ausgebildete Rentiere halfen den Nuttis dabei, Mensch und Material zu transportieren. Heute werden die Rentiere touristisch genutzt
von VOLKER WARTMANN
Das Geräusch klingt wie die Brandung, die wenige Meter entfernt an die Felsen schlägt. Aber nur, wenn man die Augen schließt. Offenen Auges ist es das Knirschen von Kufen auf gefrorenem Schnee. Dieses Geräusch ist uns bereits nach dem ersten Tag so vertraut, dass es uns bis in den Schlaf begleitet, obwohl der Schlitten schon seit Stunden vor dem Zelt steht. Eigentlich gibt es auch gar keinen Anlass, die Augen schließen zu wollen. Denn man ist bald süchtig danach, unersättlich seine Blicke schweifen zu lassen. Es gibt nicht weniger zu sehen als die Unendlichkeit, davor stehen nur nicht enden wollende Kiefern- und Birkenwälder. Nicht ein Zeichen von Zivilisation zeigt sich vor dem Horizont: kein Strommast, keine Straße, kein Auto, kein Haus, nach Stunden nicht, nach Tagen nicht. Lediglich die sonnenbebrillten Mitreisenden erinnern an eine belebte Welt. Wir fahren durch die weite Landschaft Lapplands in einem urigen Holzschlitten, gezogen von einem Rentier. Und wir lassen die Unendlichkeit an uns vorbeiziehen.
Rentier-Safari nennt sich das Ganze und ist eine Idee des Rentierhirten Nils Nutti. Mit seinen Geschichten von früher brachte ihn sein Vater auf die neue Geschäftsidee. Dieser hatte mit seiner Familie bis Mitte der 1960er- Jahre – wie seine Vorfahren jahrhundertelang zuvor auch – als Nomade gelebt. Familie Nutti zog das gesamte Jahr mit ihrer Herde viele hundert Kilometer durch die Weite Lapplands; im Sommer zu den Weidegründen in die norwegischen Berge, im Winter zurück ins schwedische Flachland. Speziell ausgebildete Rentiere halfen den Nuttis dabei, Mensch und Material zu transportieren.
Ausgangspunkt unserer Tour ist ein Parkplatz 30 Kilometer östlich von Kiruna, etwa 200 Kilometer nördlich des Polarkreises. Dort werden die Rentiere aus dem dunklen Anhänger ausgeladen und vor die Schlitten gespannt. Und los geht’s: In einer lang gezogenen Reihe setzt sich die Kolonne in flottem Trab in Bewegung. Unruhig ruckeln und rutschen die Schlitten auf dem schmalen welligen Waldweg hin und her. Schaut man geradewegs nach vorn, ist das kuschelige, spitz zulaufende Schwänzchen des Rentiers der Blickfang. Schaut man auf seine Füße nach unten, ist es seine perfekte Koordination, bei der man sich immer wundert, dass es sich nicht mit den Hinterhufen auf die Vorderhufe tritt. Schaut man nach hinten, blickt man in das schnaufende Gesicht des nachfolgenden Rentiers. Schaut man rundherum: Wald, Tundra und Schnee, scheinbar endlos.
Recht bald zeigt sich, dass sich die Steuerbarkeit der Rentiere in engen Grenzen hält. Eigentlich funktionieren Tempoveränderungen zuverlässig nur auf eine Art und Weise: Wenn das Leittier auf Befehl stehen bleibt, bleiben alle stehen, gibt es Schritttempo vor, gehen alle im Schritttempo, trabt es, traben alle, und wenn es galoppiert, galoppieren alle – Rentiere sind Herdentiere durch und durch. Leider neigen sich die Tage in Lappland schnell einem Ende zu. Die Fahrt im Schein der untergehenden Sonne und der rot leuchtende Himmel versöhnen jedoch mit dem Einbruch der Dunkelheit. Die Ankunft am Nachtlager verläuft jeden Abend nach dem gleichen Ritual. Man klinkt die Deichsel aus dem Geschirr des Rentiers aus, nimmt ihm das Geschirr ab, führt es zu einem Baum in der Umgebung und bindet es dort an. Wie richtige Rentierhirten nächtigen wir in einer original Iavvu, einem runden Zelt, das in seiner Bauweise auf den ersten Blick einem indianischen Tipi ähnelt. Rund um die Feuerstelle breiten wir unsere Rentierfelle auf der Unterlage aus Kiefernreisig aus. Nur unser Schlafsack ist nicht stilecht. Statt aus weichem Rentierkälberfell wie früher ist er aus dickem Polyester, was der romantischen Stimmung jedoch in keiner Weise abträglich ist. Schon nach wenigen Minuten spendet das Lagerfeuer gemütliche Wärme.
Zum Abendessen – es gibt Rentiergulasch – wird Preiselbeersaft und Kaffee getrunken, danach verteilt Nutti Cognac in Tassen und erzählt Geschichten vom Leben als Rentierhirte in modernen Zeiten. Etwa 2.500 der insgesamt rund 70.000 Samen leben bis heute noch von der Rentierzucht. 20.000 von ihnen leben in Schweden, 40.000 in Norwegen, 6.000 in Finnland und 2.000 in Russland, die meisten von ihnen nördlich des Polarkreises.
Am Morgen weckt uns das Knistern des neu entfachten Lagerfeuers. Zum Frühstück gibt es Fladenbrot mit Margarine, Preiselbeermarmelade oder Rentierwurst. Vegetarier hätten es auf dieser Tour nicht leicht. Sie müssten sich mit dem Frühstück als einziger Mahlzeit zufrieden geben. Denn ansonsten gibt es ausschließlich Rentierfleisch zu essen, mittags und abends, in den unterschiedlichsten Varianten, immer frisch über dem Lagerfeuer zubereitet: geräuchert und gesalzen, als Eintopf, Gulasch oder im Fladenbrot mit Preiselbeersoße.
Am Abend des dritten Tages endet unser Ausflug in die Einsamkeit in dem 600-Seelen-Dorf Saarivuoma Sameby. Jeder führt „sein“ Rentier in ein Gehege, wo es sich von den Strapazen erholen kann. Danach bekommen wir ein letztes Mal das übliche Rentier serviert – diesmal in gehackter Form mit Kartoffelpüree und unter elektrischem Lichterschein in einer Gaststube. Draußen bellen die angeketteten Huskies. Schon in der ersten Nacht auf einer normalen Matratze ist das Geräusch vom Knirschen der Kufen nur noch ganz leise zu hören. Irgendwo in der unendlichen Weite.