: „Bitte keine Angstdebatte!“
INTERVIEW ULRIKE WINKELMANN UND CHRISTIAN FÜLLER
taz: Herr Rürup, die große Koalition redet bislang so wenig von der Alterung der Gesellschaft. Kneifen die?
Bert Rürup: Bitte nicht dramatisieren. Es gibt ein erkanntes demografisches Problem, und es wurde insbesondere im Bereich der Alterssicherung eine ganze Menge gemacht. Aber die viel beschworene Zeitbombe Demografie gibt es nicht. Das ist ein falscher Begriff.
Altern die Deutschen nicht, nein?
Doch. Nur explodiert eine Bombe plötzlich, mit einem lauten Knall. Die demografische Entwicklung dagegen ist vergleichbar mit einer Gletscherschmelze. Sie schauen jeden Tag auf diesen Gletscher, machen ein Foto – und erkennen keine Veränderung. Nach 30 Jahren aber werden Sie viel Neuland auf Ihren Bildern sehen. Diese schleichende Entwicklung ist ein Risiko – und eine Chance. Ein Risiko, weil sie verleitet zu sagen: Da passiert ja gar nichts. Eine Chance, weil man Zeit hat, sich darauf einzustellen. Also, wir haben ein erkanntes Problem und brauchen keine Angstdebatte!
So gelassen sind nicht alle. Ein junger SPD-Abgeordneter sagte uns jüngst: Wenn wir nicht jetzt an den 80-Milliarden-Steuerzuschuss an die Rentner herankommen, dann nie mehr.
Ich verstehe, was er meint, Recht hat er aber nicht. Der Bundeszuschuss ist keine haushaltspolitische Manövriermasse, sondern ein konstitutives Element sowohl für die Sicherheit der heutigen Renten wie für die aus Steuern zu finanzierenden gesamtwirtschaftlichen Aufgaben der Rentenversicherung. Würde man diesen Zuschuss kürzen, müssten entweder die Renten gekürzt werden, ohne dass sich die Betroffenen noch darauf einstellen könnten. Oder es würden die Beiträge zur Rentenversicherung steigen.
Der Zuschuss macht ein Drittel des Bundeshaushalts aus. Das blockiert Reformen.
Dennoch ist der Rentenzuschuss gerechtfertigt. Wir werden uns ohnehin an Steuerzuschüsse gewöhnen müssen.
Was die jungen Politiker ängstigt ist: Wenn wir den Ausgleich zwischen den Generationen nicht jetzt neu regeln, dann wird es unmöglich.
Das ist ein völlig anderes Thema. Mit der Bevölkerungsalterung steigt auch das Alter des Durchschnittswählers. Der ist heute ungefähr 47 Jahre alt, in 20 Jahren wird er 54 sein. Politiker, die wieder gewählt werden wollen, müssen sich dann zunehmend an den Interessen älterer Wähler orientieren. Es wird schwieriger eine Politik für junge Leute zu machen. Das Zeitfenster verkleinert sich.
Vereinfacht ausgedrückt: Man kann den heutigen Rentnern nichts mehr wegnehmen, um etwas für die Jungen zu tun?
Renten erwachsen aus beitragserworbenen Ansprüchen, die man nicht beliebig kürzen kann. Den heutigen Rentnern geht es im Durchschnitt relativ gut. Perspektivisch wird sich das aber, wenn nicht stärker privat vorgesorgt wird, ändern. Besonders betroffen sind jene, die heute um die 40 sind.
Inwiefern?
Diese Generation muss im Rentenalter mit spürbaren Leistungsrücknahmen bei der gesetzlichen Rente zurechtkommen, sie muss noch bis auf 22 Prozent steigende Beitragssätze zahlen, und im Einzelfall haben die 40-Jährigen nicht mehr die Zeit, die Einbußen bei der Sozialrente durch die generös geförderte private oder betriebliche Altersvorsorge auszugleichen. Deshalb warne ich auch davor, das Rentenniveau von derzeit 52 Prozent über die 43 Prozent bis 2030 hinaus weiter abzusenken. Hier ist das Ende der Fahnenstange erreicht.
Trifft es mit den künftigen Rentnern die Richtigen?
Schwierige Frage. Die Kosten und Konsequenzen der Bevölkerungsalterung sind real und können nicht wegreformiert werden. Die Politik kann nur versuchen, sie beschäftigungs- und wachstumsfreundlicher und gleichmäßiger über die Generationen zu verteilen. Die heute Alten haben die Finanziers ihrer Renten noch gezeugt. Die Generation um die 40 hat dies nicht mehr getan und das Problem, mit dem sie konfrontiert wird, selbst geschaffen.
Und die Lösung heißt jetzt also Familienpolitik. Die Menschen sollen zum Kinderkriegen animiert werden.
Ich bin ein liberaler Mensch und würde keine pronatalistische Familienpolitik befürworten. Jeder soll seinen Lebensentwurf leben wie er will. Aber um die vorhandenen Kinderwünsche leichter erfüllbar zu machen, dafür braucht man Angebote.
Ihr Elterngeld zum Beispiel, das allen Verdienern für ein Jahr Babypause zwei Drittel ihres Gehaltes ersetzt?
Ich halte das für eine richtige Antwort auf den Kindermangel.
Wohl eher eine Akademikerinnengebärprämie.
Sie können natürlich versuchen, mit solchen Begriffen diesen Ansatz zu diffamieren und sich einer Auseinandersetzung mit der dahinter liegenden Argumentation zu entziehen. Akzeptieren Sie doch einfach mal, was moderne Familienpolitik will: Die berufliche Emanzipation der Frau zu fördern – und gleichzeitig die Entscheidung für ein Kind erleichtern.
Mit der Begründung müssten wir demnächst jungen Männern einen BMW schenken, damit sie Kinder machen. Die Ausgleichsansprüche der Mittelschicht können groß werden.
Ihre Vorurteile seien Ihnen unbenommen, dennoch verursacht ein Kind zwei Arten von Kosten. Erstens direkte für Ernährung, Kleidung etc. Zweitens das, was Ökonomen als Opportunitätskosten bezeichnen. Diese entstehen, wenn Frauen sich für Geburt und Erziehung aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Je qualifizierter und beruflich erfolgreicher eine Frau ist, umso höher sind diese indirekten Kosten. Diese aufzufangen ist die Idee des Elterngeldes.
Und davon sollen mehr Kinder kommen?
Allein durch das Elterngeld wird die Geburtenzahl wohl nicht steigen. Es gibt ohnehin keine allgemeine belastbare Theorie des generativen Verhaltens. Sie können auch nicht einen Finger in eine Kreissäge halten und sagen, welcher Zahn Sie geschnitten hat. Aber das befristete Elterngeld ist ein wichtiges neues Element in einem Ensemble von Betreuungsinfrastruktur und familienorientierten Arbeitszeiten. Da herrscht bei den großen Parteien Einigkeit.
Haben Sie den Streit zwischen SPD und Union über die Absetzbarkeit von Betreuungskosten nicht mitgekriegt?
Die streiten, richtig, aber nicht ums Prinzip, sondern um Details. Im Grundsatz aber ist der zentrale Stellenwert der Familienpolitik inzwischen unbestritten. Früher einmal liefen Familien und Frauen unter Gedöns, das ist jetzt vorbei. Eine wichtige Klammer bei Schwarz-Rot ist die Familienpolitik. Das ist ein Qualitätssprung …
Die volle Absetzbarkeit der Betreuungskosten würde den Kindergarten für Doppelverdiener praktisch beitragsfrei machen. Nur werden die Kindergärten dadurch noch keine Bildungseinrichtungen. Woher sollen die Rieseninvestitionen kommen, die im Bildungssystem nötig sind?
Politik findet nun einmal unter dem kalten Stern des Mangels der finanziellen Ressourcen statt. Veränderungen brauchen Zeit. Woher kommt nur Ihre letztlich unpolitische Sehnsucht nach dem Big Bang, der alle Probleme löst?
Daher, dass wir von Ihnen wissen, dass der Gletscher schmilzt. Und weil uns kundige Experten verraten, dass Deutschland nicht nur älter, sondern auch dümmer wird.
Als allgemeines Phänomen kann ich das nicht bestätigen. Was wir aber sehen, ist eine abnehmende Bildungsbeteiligung bei Kindern von Zuwanderern der ersten Generation und aus unteren sozialen Schichten. Das ist ein außerordentliches Problem. Denn das sind die Langzeitarbeitslosen von morgen und übermorgen. Eine Vergeudung von Humankapital. Eine Antwort auf das zentrale ökonomische Problem der Alterung heißt daher Bildung.
Was ist der Zusammenhang?
Die Gesamtbevölkerung wird in den nächsten 30, 35 Jahren nicht wesentlich zurückgehen. Was aber bereits ab dem Jahr 2010 schrumpfen wird, ist die Zahl der Erwerbspersonen. Die werden weniger und älter. Wenn wir die Güterversorgung für alle konstant halten wollen, müssen die weniger und älter werdenden Erwerbstätigen produktiver werden. Das heißt: Wir sollten möglichst viele von ihnen möglichst gut ausbilden. Die Erhöhung der Produktivität ist die wohl wichtigste Antwort auf die demografische Herausforderung.
Also brauchen wir mehr Hochschulabsolventen?
Auch, aber beileibe nicht nur. So bedeutsam der Elitewettbewerb und die Suche nach einem deutschen Berkeley sein mögen – für unser demografisches Problem bringt das wenig. Wenn man bessere Schüler und mehr Studierende will, muss man ganz unten anfangen. Bildungsnähe wird im Elternhaus und bereits in der Vorschule geschaffen. Die Weichen für eine höhere Akademikerquote werden durch eine durchgreifende Reform des gesamten Schulsystems gestellt.
Konkret?
Ich fände es richtig, ein verpflichtendes Vorschuljahr einzuführen und es auch gebührenfrei zu stellen.
Was aber nutzt das tolle Zusatzjahr, wenn die Schule dann schon nach der 4. Klasse in gute und schlechte Schüler trennt – und sich die Akademiker von morgen wegsortiert?
Unter den Anforderungen der Demografie brauchen wir ein Schulsystem, das die Kinder individuell fördert. Es soll nicht ausgrenzen, sondern auf die Heterogenität der Begabungen eingehen. Es ist deswegen richtig, ein strikt gegliedertes System von Haupt-, Realschulen und Gymnasien hinsichtlich der Segregationswirkungen auf den Prüfstand zu stellen.
Bislang sind die Bundesländer beim Thema Schulstruktur sehr zurückhaltend. Die Föderalismusreform schiebt nun die Bildungskompetenz sogar exklusiv an die Länder, die sich bislang keineswegs mit Ruhm bekleckert haben. Ist das die richtige Antwort?
Die Koordinaten unseres Föderalismus in Richtung Wettbewerbsföderalismus zu verschieben ist richtig. Was die Bildung betrifft, birgt aber die angestrebte Kompetenzverteilung zwischen Bundesstaat und Ländern zweifellos Risiken. Da haben Sie Recht. Es darf um die Bildungsziele keinen Wettbewerb nach unten geben. Wenn es nicht gelingt, zentrale Mindeststandards für das ganze Land zu formulieren, sehe ich hier in der Tat große Probleme. Die Umsetzung dieser zentralen Standards sollte aber dezentral erfolgen. Eine Schule im Königstein im Taunus hat eine andere Schülerschaft als eine in Gelsenkirchen.
Ist es nicht der Gipfel der Verlogenheit, wenn sich Union und SPD just in dem Moment zu Bildungsparteien erklären, da sie die Bildung komplett in die Provinzen abgeben?
Um es zu wiederholen, ich sehe Risiken. Seien Sie aber nicht zu streng. Im Prinzip ist es richtig, die Kompetenzen zu entflechten. Und so ganz erfolglos war die Kultusministerkonferenz in der Vergangenheit nicht, wenn es darum ging, zentrale Standards zu etablieren.