Löst die Familie auf, setzt die Frauen unter Druck

Schriften zu Zeitschriften: Pro-Kind-Politik in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ und der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“

Ohne Apokalyptik wären deutsche Reformdebatten wohl nur halb so schön. „Wenn die deutsche Rate so bleibt, wie sie heute ist, wird die Bundesrepublik am Ende des Jahrhunderts nur noch 25 Prozent ihrer gegenwärtigen Bevölkerungszahl haben“, prophezeit der dänische Sozialstaatstheoretiker Gøsta Esping-Andersen im Januar-Heft der Blätter für deutsche und internationale Politik. Hier geht es einmal nicht um Klimawandel oder terroristische Gefahren, sondern um die niedrige deutsche Geburtenrate von 1,3.

In der enormen Kinderlücke – theoretisch wünschen sich Männer wie Frauen im Durchschnitt 2,3 Kinder – erkennt Esping-Andersen, „dass mit unserem Wohlfahrtsstaat etwas grundlegend falsch läuft.“ Natürlich könne man endlos über den Wandel weiblicher Erwerbsbiografien oder die Organisation des Arbeitsmarktes diskutieren, doch im Kern gehe es darum, „dass die Kosten dafür, Kinder zu haben, rapide gestiegen sind, die finanzielle Unterstützung dafür jedoch nicht.“

Zur Rettung der Familie plädiert Esping-Andersen deshalb für eine „Politik der Entfamiliarisierung“. Soziale Sicherheit, auch für die Alten der Zukunft, entstehe auf dem künftigen Arbeitsmarkt einer weltweiten Wissensgesellschaft nur durch gesellschaftliche Investitionen in den Nachwuchs – und zwar durch die „Vermittlung von Lebenschancen“ und die Vermeidung von „negativer Sozialvererbung“. Das sei möglich, indem man die „privatisierte Welt hinter den vier Wänden der Familie“ durch hochwertige, kognitiv stimulierende Vollzeitkinderbetreuung ergänze, wie das in Dänemark bereits vom ersten Lebensjahr an praktiziert werde. Für den Staat würden sich diese Ausgaben rechnen, „weil sie erheblich längere Lebensarbeitszeiten und damit auch -einkünfte für Frauen ermöglichen“.

Dass man alternativ dazu auch einen archaischen Verhängniszusammenhang von Kinderlosigkeit und kulturellen Verfallsängsten knüpfen kann, erfährt man im Doppelheft der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte (1 + 2/2006). In düsteren Farben malt hier der TV-Journalist Peter Merseburger „das Szenario eines Westens, der seine weltweite technisch-industrielle Dominanz und damit seine Einzigartigkeit rapide eingebüßt und sein goldenes, strahlendes Zeitalter längst hinter sich hat“. Alles hängt mit allem zusammen – und was für Merseburger ganz patriarchal als „Gebärstreik der deutschen Frauen“ gilt, droht den erhofften Wirtschaftsaufschwung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verzögern, denn „wegsterbende Millionen“ seien nun mal auch „wegsterbende Konsumenten“.

Nun versteht man vielleicht, welche kulturelle Gestimmtheit den Zeit-Redakteur Jörg Lau bewegt haben mag, wenn er in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift Merkur ausgerechnet den konservativen Verfassungsrichter Udo Di Fabio als intellektuellen Lichtblick „ohne schlechte Laune“ feiert. Dass Di Fabio die demografische Krise Deutschlands eher auf kulturelle denn auf ökonomische Faktoren zurückführt, findet Lau „verdienstvoll“. Dies alles müsse ruhig einmal weniger als ein Problem der Sozialsysteme denn als „Symptom der Lebensangst und der mangelnden Vitalität“ begriffen werden.

Zweifelsohne sei Di Fabios Analyse überzeichnet, wenn er alle Probleme pauschal der „post-68er Kritik an der kleinbürgerlichen Familie“ zuschiebe. Aber wenigstens der schöne Titel von Di Fabios Buch kann Lau dazu inspirieren, ihm ungefähr Recht zu geben: „Es wird mit der großen Verzagtheit im Lande zu tun haben, mit dem gebrochenen Verhältnis zur Freiheit und damit auch zum riskanten Leben mit Kindern – kurz gesagt, mit dem Mangel an einer ‚Kultur der Freiheit‘, wie Di Fabio sie fordert.“

Doch Lau hat bereits eine bis weit in die Linke reichende „neubürgerliche Mentalität“ ausgemacht, bei der ein erfrischend konservativer Wunsch nach Selbstbindung „an die Stelle der Utopie der Befreiung aus allen Bindungen getreten ist. Man fürchtet sich mehr vor der eigenen Unfähigkeit zu dauerhaften Festlegungen als vor dem Festgelegtsein als solchem.“

Das erklärt vielleicht, wodurch eine allgemeine bleierne Liebe zu den anonymen Systemzwängen von Kapitalismus und Demografie motiviert sein könnte. Aber bevor man Di Fabio zum Trendsetter einer neubürgerlichen Mentalität ausruft, kann man ja noch mal abwarten, ob sein Buch insofern etwas taugt, als es zu einer steigenden Geburtenrate führt.

JAN-HENDRIK WULF

Blätter für deutsche und internationale Politik (1/2006) 8,50 €ĽMerkur (1/2006), 11 €ĽNeue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (1 + 2/2006), 10,80 €