: Lebe lieber selbstbestimmt
KEINE OPFER Die Filme der „Perspektive deutsches Kino“ erzählen von Frauenzimmern, Spielerfrauen und Haushaltshilfen
VON ANDREAS RESCH
Das Schöne am Kino ist, dass es einem Menschen ans Herz wachsen lässt, die man im realen Leben vermutlich keine fünf Minuten ertragen würde. Menschen wie Benjamin (Robert Gwisdek), den im Rollstuhl sitzenden Protagonisten von Dietrich Brüggemanns „Renn, wenn Du kannst“, der aufgrund seiner gnadenlos herrischen Attitüde einen Zivildienstleistenden nach dem anderen verschleißt. Zu Beginn des Films sieht man ihm dabei zu, wie er eine dieser armen Kreaturen nötigt, in einer waghalsigen handwerklichen Kamikazeaktion auf seinen Schreibtisch zu klettern, woraufhin der junge Mann das Gleichgewicht verliert, zu Boden stürzt und sich beinahe das Genick bricht.
Ein neuer Zivi muss her, und der Neue, Christian (Jacob Matschenz), ist dann auch der Erste, der Widerworte gibt und Benjamins Wutausbrüche nicht mehr ganz so klaglos über sich ergehen lässt. Die beiden werden Freunde. Doch ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt, als sie die Cellistin Annika (Anna Brüggemann) kennen lernen und sich beide in sie verlieben.
Die große Qualität von „Renn, wenn Du kannst“, dem Eröffnungsfilm der diesjährigen „Perspektive Deutsches Kino“, liegt in der Komplexität seiner Hauptfigur. Benjamin wird nicht zu einem Leidtragenden gemacht, dessen Misanthropie sich durch einen Verweis auf seine „tragischen Lebensumstände“ rechtfertigen ließe. Dazu ist er viel zu undiplomatisch, zynisch, smart. Dazu versucht er viel zu gnadenlos, die intellektuelle Kontrolle über sein Gegenüber zu erlangen.
Leider wird die Handlung zum Ende hin ein wenig zu vehement von einer um die Auflösung sämtlicher Plotknoten bemühten Dramaturgie vorangetrieben, was eigentlich überhaupt nicht notwendig gewesen wäre, da der Film vor allem von den Verwicklungen innerhalb jenes Beziehungsgeflechts lebt, in das sich seine drei Hauptfiguren mehr und mehr verheddert haben. Vor allem die kurz vor Schluss präsentierte Erklärung, wie Benjamin zu dem Menschen geworden ist, der er ist, stellt eine viel zu eindeutig-lineare Kausalkette her, die ihn letztendlich doch noch zu dem macht, was der Film über weite Strecken so großartig zu vermeiden versteht: zu einem Opfer tragischer Umstände.
Alles andere als Opfer ihrer Umstände sind die Protagonistinnen von Saara Waasners Dokumentarfilm „Frauenzimmer“, der drei Frauen, die im fortgeschrittenen Alter die Entscheidung getroffen haben, Prostituierte zu werden, in ihrem Alltag begleitet. Die 64-jährige Karolina etwa hat erst mit fünfzig begonnen, als Domina zu arbeiten. Im Film sieht man sie beim Jahrmarktsausflug mit ihren Enkelkindern genauso wie beim Schuhkauf mit einem Freier. Eine andere Frau, Christel, wurde im Alter von 51 Jahren zur Prostituierten und hat dadurch nach Jahrzehnten „Dienstleistung am Ehemann“ endlich zu sexueller Erfüllung gefunden. „Frauenzimmer“ ist schöner Film über die Schönheit eines selbstbestimmten Lebens.
Ein weiterer Film, der den Erwartungen des Zuschauers angenehm entgegenarbeitet, ist „Wags“ von Evi Goldbrunner und Joachim Dollhopf. Das Wort Wag ist ein Akronym für „Wives and Girlfriends“, die auf dem englischen Boulevard gängige Bezeichnung für Spielerfrauen. Der Film erzählt von der flüchtigen Freundschaft zweier „Wags“: von Dina, der lebenserfahrenen Freundin eines bulgarischen Stars, und Judith, der provinziellen Gemahlin eines deutschen Nachwuchsspielers, die sich in der VIP-Lounge von Hertha BSC näher kommen und dann gemeinsam Berlin erkunden. Das Ganze endet so schnell, wie es begonnen hat, und fühlt sich ein wenig an wie „Lost in Translation“ im Fußballmilieu.
So groß die Vielfalt an erzählerischen Formen in der diesjährigen Perspektive ist – von Sergej Moyas Satire „Hollywood Drama“ über Mariejosephin Schneiders Sozialdrama „Jessi“ bis hin zu Linus de Paolis Western „The Boy who wouldn’t kill“ ist ein weites Spektrum an Genres vertreten –, fragt man sich bei dem einen oder anderen Film schon, was er einem eigentlich erzählen möchte. Etwa bei der Dokumentation „Die Haushaltshilfe“ von Anna Hoffmann, in der der Alltag einer jungen Frau aus der Slowakei gezeigt wird, die sich in Deutschland um eine alte Frau und deren pflegebedürftigen Mann kümmert.
Sicherlich, es gelingt der Filmemacherin, dem Zuschauer einen genauen Einblick in den Alltag ihrer Protagonistin zu gewähren. Man sieht Martina beim Kochen, Putzen und Einkaufen zu, beim Versuch, eine vernünftige Skype-Verbindung zu ihrer Mutter aufzubauen. Man erfährt von Einsamkeit, finanzieller Not und innerer Leere. Doch gleichzeitig wird die von Ressentiments zerfressene alte Frau so gnadenlos ausgestellt, dass man daran zu zweifeln beginnt, dass sie überhaupt noch mitbekommt, was da gerade geschieht. Ebenfalls einen schalen Nachgeschmack hinterlässt „Narben im Beton“ von Juliane Engelmann, ein Film, in dem eine junge Frau ihr Baby erst tötet und anschließend im Hausmüll entsorgt.
Das Ärgerliche ist, dass hier nie das Besondere, sondern immer nur das Allgemeine, Naheliegende erzählt wird: Natürlich stammt die Protagonistin aus prekären Verhältnissen, natürlich lebt sie im Plattenbau, natürlich hat sie ein Arschloch zum Freund, natürlich fühlt sie sich von der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Kein Detail, das einen überraschen würde, keine Geste, kein Gesichtsausdruck, nichts. Was bleibt, ist ein Klischee.
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