: Blutstropfen zu Kirschblütenmustern
GANGS OF TAIPEI Kindlich, rätselhaft, gewalttätig: eine Kriminalkomödie, ein Liebesmelodram und ein Thriller aus Taiwan im Panorama und im Forum
Wie auf einer Postkarte ragt der Tower von Taipeh in den Himmel; ein Schnitt, wir sind auf dem Erdboden: Ein Mädchen steigt ins Taxi, ein Junge bleibt zurück, ein Abschied: „Au revoir Taipei“, der Erstlingsfilm von Arvin Chen.
Ein Mädchen geht mit seinem Kompass auf ein Schiff. Dort arbeitet sie in der Kantine und braucht eigentlich kein Gerät für Ort und Richtung, denn bei ihr ist die Zeit aus den Fugen, die Ordnung nach Jahr und Tag stimmt nicht mehr: „One Day“, der Erstlingsfilm von Hou Chi-Jan.
Ein Gesicht in Großaufnahme, ein Schnitt ins Schwarze, ein Boxhieb: Ein Junge wehrt sich gegen die Schülergang. Eine Viererbande kommt ihm zu Hilfe. So beginnt eine Freundschaft in „Monga“ von Niu Chen-Zer Doze.
Drei Filme aus Taiwan: eine kindliche Kriminalkomödie, ein rätselhaftes Liebesmelodram, ein gewalttätiger Thriller.
Auch Kai möchte „Au revoir Taipei“ sagen und seiner Freundin nach Paris folgen. Dafür lernt er nächtelang auf dem Fußboden eines Buchladens Französisch, milde belächelt von Susie, die die Wörterbücher wieder in die Regale einordnet. Vom Boss des Viertels bekommt Kai das Flugticket – und einen mysteriösen Transportauftrag. Damit stürzt er sich kopfüber in die Nacht, in ein beschwingtes Wettrennen mit Gangster-Clowns und müden Polizisten, und Susie avanciert zu seinem Schutzengel.
Wird es bedrohlich, bleibt es doch gemütlich: Bei der Flucht in den Untergrund wird das Paar von Aufsichtsbeamten – „Kein Gerenne in der U-Bahn“ – zum Schritttempo gebremst. Es geht nach der olympischen Regel: Immer mit einem Fuß am Boden! Auch der Verfolger muss sich daran halten. Das Objekt der Begierde erweist sich als kühn konstruierter „Mac Guffin“ à la Hitchcock, als dramaturgischer Vorwand ohne Bedeutung. Der Weg ist frei für Kai; der Abschied vom Anfang wiederholt sich spiegelverkehrt: Der Junge steigt ins Taxi, das Mädchen bleibt zurück. Aber das ist nicht das Ende, das Leben geht nicht in symmetrischen Figuren auf.
Schwieriger ist es für das Mädchen mit dem Kompass, als der Tag beginnt, „One Day“ voller verwunderlicher Zeichen. Auf dem Schiff fällt ihr erster Blick auf einen Soldaten, dabei hält er den Kompass in Händen. Beim zweiten Blick hat er Tränen in den Augen. Beim dritten tun sich leere Gänge vor ihr auf, sie hastet in eine Kajüte, und der Soldat erklärt, sie befinde sich in einem Traum, der ein Jahr später Realität werde, und dann werde sie sich in ihn verlieben. Traum, Realität und ihre Zeitebenen durchdringen einander, die Kamera tut ein Übriges: Unschärfen, Spiegelungen, Perspektivwechsel, schlafwandlerische Figuren. Aber vielleicht ist das auch nur ein Mac Guffin, nicht so ernst zu nehmen, denn plötzlich liest das Mädchen auf einem Zettel: „Oft sind die Probleme einfacher, als man es sich vorstellt.“
Den jugendlichen Gangs in „Monga“, einem alten Stadtteil Taipehs, wachsen die Probleme dagegen immer mehr über den Kopf. Auch hier ist die Erzählweise nicht linear, aber dadurch wird nichts verrätselt, nur beschleunigt. Nach seinem Fausthieb resümiert Mosquito, der schlagfertige Junge: „Wegen eines Hühnerschenkels bin ich Gangster geworden.“ Er wird in die Prince Gang aufgenommen, später erfährt er, warum: „Fünf Finger ergeben eine Faust.“ Jugendliche, die sich durchs Leben raufen, mit Martial-Arts-Einlagen und scheuen Liebeserfahrungen. Immer nach dem Motto: Erst zuschlagen, dann erklären. Sie nehmen sich ernster als die Welt sie, und die Big Bosses ziehen die Zügel wieder an: von der Teenagerrevolte zu den Gangs von Taipeh. Zuerst dreht sich die Kamera allein um die Kids, dann wird durch hektische Ortswechsel ein Kapitel taiwanischer Geschichte nach dem Ende der Militärdiktatur angerissen. In einem Hexenkessel der Gewalt treffen die Ureinwohner auf die neue Schicht skrupelloser Geschäftsleute, Tradition gegen Technik, Schwert gegen Revolver. Mosquito und seine Freunde bleiben dabei auf der Strecke; zuerst verliert der Film seine Hauptfiguren aus dem Blick, zuletzt gewinnen sie im opernhaften Finale einen großen Abgang. Blutstropfen formen sich zu Kirschblütenmustern.
HELMUT MERKER
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