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Archiv-Artikel

Die ersten Tage von Berlin

NEUNZIGER Heute vor zwanzig Jahren wurde das Tacheles besetzt. Dass das Haus den ersten neuen Club in Berlin Mitte beherbergte, ist heute vergessen. Fotografieren war hier strikt verboten, die Hipster feierten lieber das Hier und Jetzt

Es ging darum, einen besonderen, wenn nicht geheimen Ort zu schaffen, der trotzdem allen offenstand

VON ULRICH GUTMAIR

Die Touristen kennen das Haus schon aus ihren Reiseführern, wenn sie am Oranienburger Tor aus der U-Bahn steigen. Im Tacheles erzählen ihnen die braunen Wände und die alten Tische aus Stahl von den Jahren nach dem Mauerfall. Hier ahnen die Besucher, wie die Stadt wurde, was sie ist. Das Tacheles ist die verblichene Postkarte aus einer Zeit, als Berlin für einen Moment die Hauptstadt der Welt war. Davon erzählt im heutigen Berlin-Mitte nicht mehr viel. Wer sich die Tage und vor allem Nächte der frühen Neunziger noch einmal vor Augen führen will, muss sich mit Erinnerungen behelfen. Den eigenen oder denen der anderen, von denen man oft nur den Vornamen kennt.

Wie viele mögen es gewesen sein, die 1990, 91, 92, 93 die Montags-, Dienstags- und Mittwochsbars besuchten? Ein paar hundert vielleicht, die aus der ganzen Welt kamen und hier auf die revolutionäre Jugend aus West und Ost trafen. Ein paar hundert, die in den Tresor hinunterstiegen, um Blake Baxter zu hören. Ein paar wenige, die vorbeikamen, als Toktok eines Sommers im Friseur vierundzwanzig Stunden lang ihre Technomaschine bedienten. Viele, die im Eimer auf der Zwischenebene saßen und durch das große Loch im Boden hinunter in den Keller schauten. Einige, die sich im Planet Ecstasy einwarfen und morgens verstrahlt am Ufer der Spree saßen. Die die Treppen des ersten WMF heraufkamen, über das Trümmerfeld durch das Loch ins Nachbarhaus kletterten und dann hinuntergingen zum Caipirinhatrinken in die mit aufgelesenen Möbeln eingerichtete Bar. Wir riefen sie wegen ihres zerbombten Slumchics Favela.

Mit dem Fall der Mauer hatte sich eine Lücke aufgetan, durch die man freundlich ins Niemandsland einzutreten gebeten worden war. 1990 war Mitte eine Zone, die von der DDR über Jahrzehnte dem Verfall preisgegeben worden war. Nun war die alte Ordnung zusammengebrochen, die neue Ordnung noch nicht etabliert. Die Pioniere machten sich wenig Mühe, in längeren Zeiträumen als einigen Wochen und Monaten zu denken. Fast ganz Mitte, so schien es, wurde einige Sommer lang zwischengenutzt. Raves wurden gefeiert, Ausstellungen organisiert. Lokale wurden geöffnet, um manchmal schon nach wenigen Wochen wieder zu schließen. Die internationale Boheme aus Künstlern, DJs, Partyveranstaltern, Ravern, Hausbesetzern, Galeristen, Netzaktivisten, Designern, Anarchisten, Bastlern und umherschweifenden Jüngern des dionysischen Rauschs besetzte Mitte eher heimlich. Ihr Netzwerk aus Bars, Cafés, Galerien und Clubs war nur Eingeweihten sichtbar. Seine ständig wechselnden Adressen wurden mündlich oder per Flyer weitergegeben.

Wenn heute kaum Bilder aus dieser Zeit zu finden sind und die Anfänge des neuen Berlins so in einem mythischen Dunkel liegen, dann ist dieses Fehlen nicht den Wirren des Umbruchs geschuldet. Die Hipster aller Länder verschwanden in Mitte wie die Männer und Frauen, die man aus England als Kolonisatoren in die Neue Welt geschickt hatte. Statt jeden Tag hart zu arbeiten, das neue Land zu vermessen, zu kartografieren und in Besitz zu nehmen, flohen sie lieber in die Wälder und schlossen sich dem Wilden Mann an.

So jedenfalls ist es in Hakim Beys Buch „The Temporary Autonomous Zone“ zu lesen, das 1991 in New York erschienen und sofort zur Pflichtlektüre der wilden Intellektuellen erklärt worden war. Die Temporäre Autonome Zone (TAZ) ist Beys „poetische Fantasie“ einer Guerillaoperation, die ein Stück Land, Zeit oder Imagination befreit und sich sodann auflöst, um anderswo wieder zu erscheinen: „Babylon hält seine Abstraktionen für real, und innerhalb dieses Fehlerbereichs kann die TAZ existieren. Sobald sie aber einen Namen erhalten hat, repräsentiert und vermittelt worden ist, wird sie verschwinden und eine leere Hülle zurücklassen.“ Für Bey war die TAZ ein dionysischer Ort der Unmittelbarkeit. Ein Fest, das außerhalb der profanen Zeit geschieht. Ein solches Fest war Mitte. Jetzt, nur in diesem Moment konnte man die Musik und die Leute genießen, die sich im Niemandsland versammelt hatten. Der Staat würde seine Herrschaft bald wieder errichten, das Kapital heruntergekommene Straßenzüge in luxuriöse Konsummeilen transformieren.

Wie gründlich die Temporäre Autonome Zone Mitte verschwunden ist, zeigt das Tacheles. Es steht als leere Hülse, als Index eines Mythos in der Oranienburger Straße. Denn dass der erste wirkliche Club von Mitte eben hier residierte, ist heute vollkommen vergessen. Schon bald nach der Besetzung der Ruine im Februar 1990 machten sich Tim Richter und Nick Kapica mit Schaufel und Eimer daran, den Keller des ehemaligen „Haus der Technik“ der AEG von Ruß und Sand zu befreien. Richter kam aus Australien. Kapica, ein Londoner mit polnischen Wurzeln, hatte sich nur für ein Jahr im neuen Berlin umsehen wollen.

Die beiden kannten die Clubs im Westen der Stadt, wollten aber etwas anderes. „Wir wussten genau, welche Stimmung dieser Club haben sollte, welche Musik dort gespielt würde und wer das Publikum wäre“, erinnert sich Kapica. Den Ort für diesen imaginären Club fanden sie, als sie im Café Zapata im Erdgeschoss des Tacheles eine Falltüre entdeckten. „Wir gestalteten das Innere um die Situation herum, die wir vorgefunden hatten. Zwei Räume, die durch einen kleineren Raum in der Mitte getrennt wurden. Eine Brücke über ein Loch voller Wasser und ein Haufen Geröll trugen zur Atmosphäre bei. Obwohl wir keine Werbung gemacht hatten, war der Laden am Eröffnungsabend voller Freaks. Sie verstanden, was wir wollten: Die Nacht als Erfahrung zu begreifen.“ Dass das Fotografieren während des Vollzugs der Riten in der Ständigen Vertretung strikt verboten war und Filme auch schon mal aus Kameras entfernt wurden, war Teil des Konzeptes, die Atmosphäre eines besonderen, wenn nicht geheimen Orts zu schaffen, der trotzdem allen offenstand, sagt Kapica.

Eine enge Treppe ging es hinunter. Ein Laserstrahl durchquerte den Club wie ein Fingerzeig aus der Zukunft, der auf die Reste einer Geschichte traf, die 1945 stehen geblieben zu sein schien. In einem Fahrstuhlschacht lag ein Spiegel, der den Augen einen Stollen ins Nirgendwo vormachte. Die Toiletten waren unisex. Nur einige bunte Lichter erwärmten das karge Ambiente feuchter Wände. Später schleppte Till Vanish, der 1990 aus Weimar ins Tacheles gekommen war, alte Fernseher von der Straße in den Keller, um darauf Loops zu zeigen und Feedbacks zu erzeugen.

Die internationale Boheme aus Künstlern, DJs, Ravern und Hausbesetzern besetzte Berlin-Mitte still und leise

An manchen Sonntagen schnitt Vanish hier unten Haare. Mit dem Argentinier Jorge Sastre arbeitete er sonst am Licht, bis beide 1992 die Ständige Vertretung übernahmen, wo Ben de Biel weiter dafür sorgte, dass die Leute an der mobilen Bar etwas zu trinken bekamen. In der Nacht des Donnerstags spielten Armin und Mitch aus Offenburg mit Alain aus New York unter dem Motto „Start from zero“ House. Am Samstag war Corin mit House und Techno dran, sonntags legten Juri, Bym und Alex Raggamuffin und Hiphop auf. Später kam der Freitag dazu. Cut-X begann hier unten seine Karriere mit schnellen Technotracks, dem britischen Bleep-und-Clonk-Sound, der die Kids in den Keller lockte. Sie gaben dort den neuen, ultranervösen Tanzstil der Stunde zum Besten, die Zeigefinger immer in der Luft.

1995 verlor die Ständige Vertretung den Kampf mit den Anarchos aus dem Tacheles, die sich trotz ihrer internen Fraktionskämpfe darin einig waren, lieber Rockbands im Keller hören zu wollen als House und Techno.

Nick Kapica und Tim Richter gründeten eine Agentur namens Ständige Vertretung. Wer im Flughafen Schönefeld Orientierung sucht, blickt auf ein System, das von Studio SV entworfen wurde. Armin führt den Plattenladen Melting Point, Mitch ist immer noch DJ. Ben de Biel gehört die Maria, Cut-X wurde später im Bunker in der Reinhardtstraße ein Star der Gabba Nation. Jorge Sastre lebt in Madrid und arbeitet für die dortige Love Parade. Till Vanish hat seine Videobänder bei dem Brand im Nachbarhaus des Tacheles verloren, wo er damals wohnte. Heute arbeitet er als Grafikdesigner.

Das Tacheles aber ist heute das Pompeji der Temporären Autonomen Zone Mitte. Davor steht der Polizist der Geschichte und ruft: „Gehen Sie bitte weiter, meine Herrschaften. Hier gibt es nichts mehr zu sehen.“