: Im Namen des Herrn
Bis in die 70er Jahre waren „geisteskranke“ Kinder und Jugendliche im St. Johannesstift in Marsberg der Willkür von Nonnen, Pflegern und Ärzten ausgesetzt. Das sagt ein früherer Schulleiter der Anstalt. Seine Hinweise auf die Menschen unwürdigen Zustände blieben 1974 ohne Untersuchung. Heute will er nicht länger schweigen
VON BRIGITTE SCHUMANN
Aus heutiger Sicht bedauert Gerhard Kroh, dass er und seine Frau 1974 dem Druck von „oben“ nachgegeben und ihre Anzeige zurück gezogen haben. So hat es weitere drei Jahrzehnte gedauert, bis die Öffentlichkeit von den Menschen unwürdigen Zuständen in westdeutschen psychiatrischen Einrichtungen in der Zeit nach 1945 erfuhr. Erst der Film „Lebensunwert“ (2005), der den Leidensweg des Paul Brune nachzeichnet (siehe Kasten), legte offen, was Krohs bezeugen wollten.
1972 wird Gerhard Kroh vom Landschaftsverband im Marsberger St. Johannesstift als Schulleiter eingestellt. Er soll die fast hundertjährige psychiatrische Einrichtung schulorganisatorisch neu gestalten. Doch als Kroh seine Stelle antritt, kann von Schule nicht die Rede sein: Für fast 1.000 Kinder und Jugendliche gibt es nur eine 70-jährige Volksschullehrerin und einige Pfleger für den Werkunterricht. Ansonsten wird der „Unterricht“ von pädagogisch nicht qualifizierten Schwestern des Vinzentinerinnenordens abgehalten, ohne geeignete Lehr- und Lernmittel. Anfang der 1970er Jahre gilt immer noch der Grundsatz, dass Bildung „schwachsinnigen“ Kindern schade.
Erste Ermittlungen
Doch nach Krohs Urteil sind mindestens die Hälfte der so Abgestempelten „normal intelligent“. Sie weisen nur „milieubedingte und oder durch die Heimunterbringung verstärkte Verhaltensauffälligkeiten“ auf, notiert er in einem Bericht an seinen Arbeitgeber, den Landschaftsverband Westfalen. „Daraufhin forderte auch das Landeskultusministerium von mir einen Sachstandsbericht“, sagt Kroh heute. Wiederum berichtet er „wahrheitsgetreu“. Doch dann drohen die Nonnen gegenüber dem Landschaftsverband damit, ihre Arbeit einzustellen, sollte Kroh als Schulleiter im Amt bleiben.
Die Drohung wirkt. Der Landschaftsverband legt dem Schulleiter nahe, sein Dienstverhältnis aufzukündigen. Nun solidarisieren sich die Schüler mit ihrem Lehrer: „Als das unter den Kindern bekannt wurde, kamen etliche Jungen zu mir und baten mich, sie nicht im Stich zu lassen“, erzählt der pensionierte Sonderschullehrer. Die Anstaltsbewohner berichten von Demütigungen und Misshandlungen durch Schwestern, Pfleger und Ärzte. So hätten sie Erbrochenes verzehren müssen. Gegen aufsässige Schüler würden eiskalte Bäder verordnet. Bei Unruhe in den überfüllten Schlafsälen würden die „schuldigen“ Jungen geschlagen oder gezwungen, so lange auf dem Boden zu knien, bis sie ohnmächtig umkippten. Auffällige Schüler seien zur Strafe tagelang auf einer Station für schwerst geistig Behinderte isoliert worden und im Falle ihres Widerstands mit starken Drogen ruhig gestellt. Auch seien sie daran gehindert worden, sich an das Jugendamt oder an ihre Erziehungsberechtigten zu wenden.
Gerhard Kroh und seiner Frau lassen die Anschuldigungen der Kinder keine Ruhe. Um den langwierigen Beamtendienstweg zu vermeiden, wendet sich Krohs Ehefrau im Januar 1974 mit einer Eingabe direkt an den damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn. Sie bittet um eine Überprüfung der Zustände im St. Johannesstift. „Dann ging alles ungeheuer schnell“, erinnert sich Frau Kroh. „Die Angelegenheit wurde dem zuständigen Justizminister übergeben. Die Staatsanwaltschaft in Arnsberg nahm umgehend ein Ermittlungsverfahren auf.“
Die Schattenseite der Ermittlungen: Die Heiminsassen werden nun massiv unter Druck gesetzt mit dem Hinweis, ihre jeweilige Personalakte werde im Falle einer Aussage gegenüber der Staatsanwaltschaft anwachsen. „Und das hat so viel bedeutet wie, du kommst hier nie wieder raus“, weiß Gerhard Kroh, der zur Zeit der Ermittlungen schon als Sonderschullehrer in Winterberg arbeitete. Er selbst habe Entmündigungen erlebt, die er für ungerechtfertigt hielt. Heute erklärt er sie sich damit, dass entmündigte Jugendliche als kostenlose Ersatzpflegekräfte in den Erwachsenenanstalten des Landschaftsverbandes gut zu gebrauchen waren.
Der Fall Paul Brune
Zu einer Anklageerhebung und einem Verfahren ist es nie gekommen. Frau Kroh wird vom Generalstaatsanwalt in Hamm gebeten, ihre Anzeige zurückzuziehen. Begründung: Die Anklage würde vor keinem Gericht Bestand haben. Unter diesem Druck ziehen die Krohs ihre Anzeige zurück. So ist der Öffentlichkeit bis heute weitgehend verborgen geblieben, dass selbst 30 Jahre nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft Kinder und Jugendliche in der Psychiatrie in Marsberg, aber sicher nicht nur dort, Menschen unwürdigen Verhältnissen ausgesetzt waren.
In der NS-Zeit und bis in die 1950er Jahre hinein war auch Paul Brune als „Schwachsinniger“ im St. Johannesstift Foltermethoden und unmenschlicher Behandlung unter den Vinzentinerinnen ausgesetzt. Ihn verwundert es nicht, dass die Menschen verachtende Mentalität in psychiatrischen Einrichtungen offenbar bis in die 1970er Jahre ungebrochen weiterwirken konnte. „Es hat doch keine wirkliche Aufarbeitung nach 1945 gegeben“, sagt Brune. Ihn selbst hat es unendlich viele Anläufe gekostet, bis er 2003 vom NRW-Landtag als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurde. Und erst danach habe sich auch der Landschaftsverband dazu aufgerafft, sich bei ihm öffentlich zu entschuldigen. Immerhin entstand mittlerweile im Auftrag des Landschaftsverbandes ein Film über Brunes Leidensweg.
Aus Sicht von Paul Brune und den Eheleuten Kroh ist diese Rehabilitation zu wenig. Für sie ist es nicht hinnehmbar, dass sich der Landschaftsverband nicht zu einer Schuld bekennen will, die bis in die 1970er Jahre hinein reicht. Auch die katholische Kirche schweigt bis heute zur Rolle der Vinzentinerinnen in der NS-Zeit und danach. Die NRW-Landesregierungen nach 1945 haben bislang keinerlei eigenständiges Aufklärungsinteresse an diesen „unterdrückten Wahrheiten“ aus den westfälischen Kinder- und Jugendanstalten gezeigt.
„Lebensunwert“ von Robert Krieg ist als DVD zu beziehen beim Westfälischen Landesmedienzentrum in Münster: email: medienzentrum@lwl.org