: Ganz wanderbar!
Wandern galt lange Zeit als oberspießig. Vom Leistungsdruck befreit, boomt nun das Genusswandern. Zum Nutzen der Natur
von CHRISTEL BURGHOFF
Schon an seinem Outfit soll ein echter Wanderer zu erkennen sein. Im Unterschied zum harmlosen Spaziergänger trägt er kariertes Hemd und Kniebundhose. Wenn er einen Wald betritt, dann nie ohne Hut und Stock. Und nie allein, sondern immer nur im Verein. Sein charakteristischer frischer Mut im Frühtau zu Berge verdeckt nur sein wahres Alter: Er ist ein Greis. Und er ist aus der Mode.
Der „echte“ Wanderer ist ein Klischee mit einem schlechten Image. Sein Ruf sei sogar derart schlecht, bemerkte vor einigen Jahren der Wanderforscher und Soziologe Rainer Brämer, dass selbst Touristiker befürchteten, durch eine Förderung des Wanderns „modisch herausgeputzte Destinationen in bessere Altenheime zu verwandeln“. Umso verwunderlicher war, dass der Forscher im gleichen Atemzug vermerkte, Wandern entwickele sich zu einem neuen Trend unter Jüngeren. „Genusswanderer“ nannte er sie. Eine neue Zukunft für die Deutschen Wälder und Flure, denen im gleichen Maß, wie die organisierte Wanderbewegung überalterte, langsam die große Leere drohte.
Doch Genusswanderer ließen sich da noch am ehesten im sonnigen Süden sichten. Wo südländisches Lebensgefühl lockte, wo die Blicke von den Bergen weit über gefällige Landschaften streifen, an deren Horizont vielleicht noch das azurblaue Meer schimmert, streifte man gern durch die Natur. Wem Wandern in Deutschland zu deutsch und bemoost oder historisch zu belastet war, der ging lieber nach Italien oder auf die Kanaren. Deutsche Wanderlust verhalf etwa auf Gomera deutschen Aussteigern zu schönen Geschäftserfolgen: Deren Wanderagenturen boomen. Unterdessen wurde Wandern modisch in Trekking umbenannt. Und da war beispielsweise auch Nepal ein Muss. Aber deutsche Mittelgebirge?
Inzwischen wird gejoggt, geradelt und wieder gewandert. Kein Nationalpark zu viel in diesem Land, denn was der Natur dient, hat auch die Menschen angelockt. Die Natur punktet auf der Werteskala der Deutschen geradezu unbestritten auf höchsten Rängen. Sie wird erlebt wie ein Produkt. Schön und gefällig soll sie sein, sie darf auch etwas wild sein oder sich gerade in der Rückentwicklung zur Ursprünglichkeit befinden. Dafür stehen Nationalparks.
Die neuen Wanderer indes sollen sich weit vom Klischee der alten Wanderer entfernt haben, meint Wanderforscher Brämer. Das heißt: Sie bevorzugen eher weniger Programm und weniger Strecke als vielmehr das zwanglose Gehen, sie schätzen komfortable Unterkünfte und schmackhafte Küche mit hochwertigen regionalen Produkten. Viele Touristiker begannen umzudenken.
Aufmüpfig, rebellisch, mit freiheitlichem Impuls den wilhelminischen Verhältnissen und den Zumutungen des Industriezeitalters trotzend, so fing einst die Wanderbewegung an. Eine Jugendbewegung. Der Wald: ihr Tempel. Die freie Natur: ein romantischer Gegenentwurf. Die Geselligkeit: ein Akt der Solidarität. Der Naturschutz: ein Muss. Sowohl die bürgerliche Organisation der Wanderbewegung in Wander- und Gebirgsvereinen als auch die Wanderbewegung der Arbeiterschaft, die Naturfreunde, blicken auf über 100 Jahre Geschichte zurück. Und auf eine Zeit, in der man sich als Wanderer auch, modern gesprochen, als ein Alternativer fühlen konnte.
Die neuen Wanderbedürfnisse wurden vor allem von der Wellnessbewegung angeschoben. Mediziner atmeten auf, als der sanfte Trend zum gesundheitlichen Wohlbefinden sich immer stärker die Position eroberte, die vorher die kräftezehrende Fitness eingenommen hatte. Sich zu synchronisieren, Kopf, Körper und Seele, das neuronale Netzwerk durch langsames, auf alle Sinne einwirkendes Erleben zu stabilisieren, das wird als der ultimative Gewinn beim Wandern beschrieben. Und auch die Effekte des moderaten Trainings, die sich als Prophylaxe gegen Herz- und Kreislaufstörungen und andere ernsthafte Erkrankungen erwiesen haben, sind kaum zu toppen. Sitzen oder Fahren sei der menschlichen Anatomie nicht gemäß, sagen die Fans, ganz im Gegensatz zum Gehen, sinnfällig verdeutlicht durch die Metapher vom „aufrechten Gang“. Auf Wanderschaft zu gehen sei Reisen pur.
Inzwischen werden die neuen Wanderbedürfnisse mehr und mehr bedient. Mit touristischen Angeboten ebenso wie mit Informationen im Internet; Foren haben sich gebildet, in denen sich Neulinge mit Tipps versorgen; das Portal des Deutschen Wanderverbands bietet einen hervorragenden Einstieg in das „Wanderbare Deutschland“. Mit einer „Qualitätsoffensive“ der Verbände wird an einer Überarbeitung des hiesigen Wandernetzes gearbeitet. Es soll attraktiver werden. Und nicht zuletzt wurden Industrie und Outdoor-Ausrüster tätig. Leichte, luxuriöse Materialien aus Hightechlaboren versprechen Leichtfüßigkeit auf allen Höhenmetern, und sie halten dicht, auch bei Ekelwetter. Der Naturfan wurde von den Ausrüstern als penibel geoutet: wie er bis aufs Gramm genau das Rucksackgewicht plant, dem Zwiebelprinzip bei der Wäsche huldigt, dem ideal angepassten Schuh frönt. Alle Wünsche werden bedient. Und Gott sei dank darf das alles auch schick sein.
Und die schlechte Seite? Eigentlich gibt es die nicht. So schlicht die Begründung des berühmtesten deutschen Fußwanderers, Johann Gottfried Seume, für seinen „Spaziergang nach Syrakus“ auch war, sie ist unübertroffen. Er wollte sich „das Zwerchfell lüften“, erklärte der Literat. Und das bekam ihm glänzend. Kein Wunder, dass bei so viel sinniger Hygiene auch die Sinnfrage wieder ins Spiel gekommen ist: Man will auch wieder pilgern gehen. Einmal bis ans alte Ende der Welt, das spanische Fisterra an der westlichen Atlantikküste, zu wandern ist zum Traum vieler Menschen geworden. Der spanische Pilgerweg El Camino de Santiago hat in den letzten Jahren überwältigen Zulauf erfahren.
Und wie geht es weiter? Nicht auszuschließen, dass es doch noch eng wird in der deutschen Restnatur. Seit die Wellnesswanderer die Teleskopstöcke entdeckt haben, machen sich neue Wanderscharen auf. Die neue Mode „Nordic Walking“ hat das Gehen geradezu populär gemacht und versetzt ganze Landfrauenvereine geschlossen ins Stöckefieber. Wie ehedem die Trupps der frischwärts Ziehenden sind jetzt neue Gruppenstärken unterwegs. Fast, dass sich die Bilder von einst und heute gleichen. Und auch gespottet wird schon wieder. „Frisch, fromm, fröhlich, frei, fit for fun und Kraft durch Freude“, witzelte unlängst Wiglaf Droste in der taz. Selbst „alternatives“ Wandern taucht plötzlich auf, die ersten Wanderfans grenzen sich vom Mainstream ab. Die Vorreiterrolle für die Individualisten haben die Schweizer übernommen, sie haben eine hilfreiche Website zur Selbstorganisation und für Routen abseits der beliebten Trampelpfade eingerichtet (www .wandersite.ch). Leider sind bislang nur sie auf die Idee gekommen, ihr Land alternativ zu sichten. Vielleicht braucht es für die große Natursehnsucht einfach noch mehr Naturschutzgebiete.
CHRISTEL BURGHOFF lebt als freie Journalistin in Frankfurt am Main