IM NIESELREGEN : Mann am Klavier
Im nieselregengeschützten Eingang des ehemaligen Bilka an der Kottbusser Brücke sitzt ein Mann und spielt Klavier. Er ist völlig versunken und spielt Chopin. Chopin! Woher ich das weiß? Ich habe ihn gefragt, ob er Mozart spielt, und er hat gesagt: „Nein, Chopin.“ Und ich wieder: „Ah, Chopin!“ Der Mann ist um die sechzig, hat weißes, volles Haar und einen Zigarettenstummel im Mund. Er ist völlig auf die Musik konzentriert und sieht kein einziges Mal hoch. Es interessiert ihn nicht, ob jemand etwas in seinen Hut hineinschmeißt, der auf dem Klavier liegt. Als er fertig ist mit Chopin, holt er aus seiner Jacketttasche Tabak und fängt an, sich eine Zigarette zu drehen.
Er erzählt: „Eigentlich bin ich gar kein Klavierspieler, sondern Klavierbauer. Hab mir das Klavierspielen selber beigebracht.“ Er hält die Hand aus dem Eingangsbereich hinaus und prüft, ob es noch nieselt. Tut es. „Gott sei Dank muss ich das Klavier nicht weit ziehen. Wohne nur ein paar Häuser weiter. Im vierten Stock. Ganz schöne Plackerei“, sagt er. „Oh Gott“, sage ich. Er lächelt maliziös. „Kleiner Scherz“, sagt er.
„Da drüben wohnt eine böse Frau“, sagt er und zeigt auf das Eckhaus gegenüber. „Die sagt, ich würde Chopin kommerzialisieren. Da hab ich sie gefragt, ob sie Karajan hören würde, und wer Chopin mehr kommerzialisiert hätte.“ Ich frage ihn, ob er denn viel Ärger mit der Polizei hat. „Inzwischen nicht mehr. Wenn sie mich sehen, drücken sie aufs Gas und fahren schnell vorbei. Da kommen dann nämlich immer Leute und sagen den Polizisten, sie sollen mich in Ruhe lassen, ich würde doch niemanden stören. Und was sollen sie auch machen? Sich das Klavier aufs Auto schnallen? Nee nee, die wollen nichts mit mir zu tun haben.“ Ich sage, dass ich ihn, wenn ich ein Wiener Café hätte, engagieren würde. Er sagt: „Ich kenne auch noch einen Stehgeiger.“ KLAUS BITTERMANN