Der lange Marsch der wandernden Ameisen

China begeht morgen das „Neue Jahr des Hundes“. Das Wanderproletariat verlässt die Städte und feiert bei der Familie auf dem Land. Die Sitten ändern sich, die Laune der Ausgebeuteten bleibt heiter

von GEORG BLUME
und JOHANN VOLLMER

Alles drängt zum Pekinger Hauptbahnhof. Die Polizisten vor der gigantische Abfertigungshalle sind sichtlich überfordert. Den Menschenstrom in geordnete Bahnen lenken zu wollen gleicht einem Kampf gegen Windmühlen. „Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt, sprechen Sie nicht mit Fremden“, tönt es in einer Dauerschleife aus krächzenden Lautsprechern. Doch für ein Gespräch hat ohnehin niemand Zeit. Tausende drängen mit Unmengen von Gepäck in Richtung der Gleise. Sie schleppen voll gestopfte Seesäcke und riesige karierte Plastiktaschen. Die große Mehrzahl sind Männer in dicken, dunkelfarbigen Mänteln, die Wintermütze tief ins Gesicht gezogen. Sie schubsen, stoßen und schimpfen. Doch man weiß: In ihren Zügen herrscht nicht selten Feststimmung.

Fest für die, die schuften

Einmal im Jahr erlebt Chinas Hauptstadt diesen Exodus. Dann steht wie morgen das traditionelle chinesische Neujahrsfest vor der Tür, und Pekings vier Millionen Wanderarbeiter haben Ferien. Für ein bis zwei Wochen ruhen die meisten Großbaustellen der Hauptstadt, haben Fabriken und Märkte geschlossen.

Das Provinzproletariat aber ist auf den Beinen und fährt zurück in die Heimat. 144 Millionen Reisende zählt allein das Bahnministerium. Es ist die beste Jahreszeit für diejenigen, die sonst nur schuften. Für die 140 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in China, die sich ohne Arbeitsvertrag und Versicherungsschutz als Tagelöhner verdingen. Die das ganze Jahr in Ziegelhütten am Rande der Metropolen leben. Von denen viele im Westen meinen, sie würden ausgebeutet und drückten die Löhne in den Industrieländern.

Nudeln vor der Abfahrt

Lu Wang will von seiner Ausbeutung zu Neujahr nichts wissen. „Das Neujahrsfest bedeutet allen sehr viel, weil man endlich seine Familie wiedersehen kann“, sagt der 49-jährige Bauarbeiter aus der südchinesischen Provinz Guizhou. Lu Wang hockt in einer Nudelbar nicht weit vom Bahnhof. Er trägt den stigmatisierenden Wintermantel der Wanderarbeiter in oliven Militärfarben wie die Menschen zur Zeit von Maos Kulturrevolution. Sein Gesicht ist faltig, die grauen Haare machen ihn älter, als er ist.

Er klopft auf die Innentasche des Mantels, in der sein Bahnticket steckt. Sieben Stunden habe er vor einer Woche für die Fahrkarte anstehen müssen, erklärt Lu Wang. Deshalb habe er sich heute Zeit genommen, sein Zug nach Guizhou fahre erst in drei Stunden. 2.500 Kilometer seien es bis nach Hause, die Fahrt dauere 30 Stunden. Ihn störe das nicht. Im Zug sei es zwar unbequem und eng, aber man reise sicher und sorgenfrei.

Wiedersehen der Kinder

Vor sich hat Lu Wang drei schwere Taschen abgestellt: Kleidung für seine Frau und Spielsachen für den Sohn. Beim Gedanken an die Geschenke verfliegen Stress und Müdigkeit. Es sei das einzige Mal im Jahr, dass er seine Familie besuche, meint Lu Wang, doch werde es diesmal nur ein Teilwiedersehen. Zwei seiner drei Kinder arbeiteten an der Küste. „Bei uns zu Hause leben noch alle von der Landwirtschaft“, erzählt er. Aber immer mehr Menschen aus seinem Dorf folgten seinem Beispiel und zögen in die Städte. In der eigenen Familie bestelle nur seine Frau weiter das Land. Würde auch sie umziehen, müsste die Familie den Anspruch auf den Boden im Dorf aufgeben.

Von dieser Errungenschaft des Sozialismus, dem eigenen Stück Land jeder Bauernfamilie, aber will Lu Wang nicht lassen. Außerdem müsse sich jemand um die Großmutter kümmern. Für sie habe er ein besonderes Mitbringsel, meint Lu Wang: Milchpulver, das sei gesund für alte Leute. Seine Frau bekomme Honig.

Eine Generation jünger ist der 35-jährige Bauarbeiter Meng Ying. „Ich verstehe nicht, was die Leute immer alles mitschleppen“, wundert sich Meng Ying über das Treiben rund um den Hauptbahnhof. Meng Ying, für seine Verhältnisse festlich in schwarze Cordjacke und schwarze Leinenhose gekleidet, will Neujahr in Peking bleiben und nur einen Verwandten vom Zug abholen. „Bei uns gibt es ein Sprichwort: Warum soll man Steine mit in die Berge nehmen?“, sagt Meng Ying. Heutzutage könne man doch alles, was es in Peking gibt, auch in der Provinz kaufen. Und umgekehrt. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land verringerten sich. Dadurch habe das Neujahrsfest viel von seinem Zauber verloren. „Früher war das große Essen mit der Familie etwas Besonderes, weil man sich das nur einmal im Jahr leisten konnte“, erinnert sich Meng Ying. Zwar drehe sich weiterhin alles um das Neujahrsmahl, das traditionell mit chinesischen Maultaschen, den Jiaozi, beginnt. Aber Fleisch und andere Nahrungsmittel, die früher auf dem Land Luxus waren, seien heute für die meisten das ganze Jahr über erschwinglich. Meng Ying meint, er esse heute in der Stadt nicht viel anders als auf dem Land. Er kenne die Warnungen der Gesundheitsbehörden vor zu fetthaltiger Ernährung. Man schaue sich nur die Kinder an! „Nicht nur in der Stadt, auch im Dorf gibt es heute viele dicke Kinder, die zu viel Fleisch essen“, sagt Meng Ying.

Je länger er spricht, desto engagierter trägt er vor. Er zählt zu dem Typ Wanderarbeiter, der bei besseren Bildungschancen für Landbewohner längst nicht mehr auf der Baustelle wäre. Er beobachte, wie viele alte Neujahrstraditionen verschwänden, erklärt Meng Ying. Früher benutzte man in den ersten fünf Tagen nach Neujahr kein Messer, weil das Unglück bringen soll. Und wenn man sich das Gesicht wusch, musste man das dreckige Wasser auffangen, weil man sonst das Glück aus dem Haus spülte. Man warf die Schuhe des alten Jahres weg, weil das Wort für „Schuhe“ (xie) jenem für „teuflisch“ (xie’e) ähnelt. „Solche Geschichten gibt es viele, und es gibt sie auch heute noch“, lacht Meng Ying, weil die Leute zu faul seien und lieber Karten spielten, als Ordnung zu machen. Meng Ying wirkt nicht unglücklich über den Sittenverfall.

Kleider für die Eltern

Lin Feng ist noch eine Generation jünger: 20 Jahre alt, in körperbetonenden Jeans, darunter ein rosa Rollkragenpulli – so steht sie, unruhig auf den Zehenspitzen wippend, im Kopierladen in Bahnhofsnähe. Lin Feng arbeitet bis zum Vorabend des Neujahrsfests. Sie hat es nicht weit bis nach Hause. Ihre Eltern leben in Zhangjiakou, einer Stadt in der an Peking grenzenden Provinz Hebei. Ihre Mutter ist dort Lehrerin, der Vater Fahrer, aber Stadtmenschen seien sie nicht, sagt Lin Feng. Ihr Leben in Peking könnten sich ihre Eltern nicht vorstellen. Auch seien sie immer so altmodisch gekleidet. Deshalb bringe sie ihnen zu Neujahr immer neue Kleider mit. Toll sähen sie darin aus, doch würden sie die Sachen kaum anziehen.

Lin Feng strahlt kindliche Vorfreude aus. „Bei uns gibt es jedes Jahr ein großes Festessen mit Maultaschen“, erzählt sie. Dabei werde ein kleines Geldstück, ein Fen, eingebacken. Wer es finde, habe im neuen Jahr Glück.

Pekings Bahnhofsplatz aber ist nicht festlich geschmückt. Neujahr in China ist ein Familienfest, im öffentlichen Raum ändert sich wenig. Es ist auch nicht das Fest aller Chinesen. Eine 30-köpfige Gruppe von Wanderarbeitern der Yi-Minderheit aus Südwestchina stemmt sich gegen den Menschenstrom zu den Gleisen. Sie schleppen noch mehr Gepäck mit als die anderen Reisenden: „Da sind keine Geschenke drin, das ist alles, was wir besitzen“, sagt ein Mann im hellen Trachtenumhang mit langen Fransen. Peking sei für ihn und seine Kollegen nur Durchreisestation auf dem Weg zur russischen Grenze, berichtet er.

Nicht für alle Chinesen

„Wir sind Bergleute und haben gehört, dass es dort Arbeit geben soll.“ Und das Frühlingsfest? „Ach ja“, der Mann winkt ab. „Wir werden zusammen essen. Aber so wichtig ist das nicht. Das Frühlingsfest ist in erster Linie ein Fest der Han-Chinesen.“

Die Männer stellen die Taschen in ihrer Mitte zusammen und lassen sich ermattet nieder. Wie die Reise gen Norden weitergeht, wissen sie noch nicht. Ihre Züge sind kurz vor Neujahr alle ausgebucht.