Kreativ und ungehorsam

Henning Pietzsch rekonstruiert facettenreich die Oppositionsbewegung in Jena zwischen 1970 und 1989. Sein Grundlagenwerk erinnert damit an jenen Widerstand in der DDR, der sich nicht erst zu Wendezeiten formierte

Die Leitung der Thüringer Landes-kirche war fest in der Hand der Stasi

Im März 1983 kam es im thüringischen Jena zu Tumulten. Mehr als dreißig Demonstranten mischten sich mit selbst gemalten Plakaten unter eine offizielle Friedenskundgebung. Transparente verkündeten Slogans wie „Frieden schaffen ohne Waffen“ und damit einen kompromisslosen Pazifismus. Sicherheitskräfte versuchten, die Gruppe abzudrängen; sie schubsten und schlugen die Demonstranten und zerstörten deren Plakate.

Diese Aktion in der Jenaer Innenstadt dokumentierten die Friedensaktivisten mit mehreren Kameras. Später schmuggelten sie die Aufnahmen in den Westen, wo sie im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Dadurch rückte die Jenaer Friedensbewegung in die gesamtdeutsche Wahrnehmung. Ein derart offenes oppositionelles Auftreten war zu diesem Zeitpunkt in der DDR eigentlich undenkbar, dabei konnten die Demonstranten vom März 1983 auf eine lange Vorgeschichte verweisen. Diese kontinuierliche Praxis zivilen Ungehorsams ist bislang publizistisch kaum gewürdigt worden. Zu Unrecht, wie man aus Henning Pietzschs umfangreicher Studie „Jugend zwischen Kirche und Staat“ lernen kann.

Als Keimzelle des Widerstands macht der Historiker die „Junge Gemeinde Stadtmitte“ in Jena aus. Im relativ geschützten klerikalen Raum fanden sich immer wieder Pioniere oppositioneller Arbeit zusammen, ohne selbst unbedingt treue Kirchgänger zu sein. Über das gemeinsame Hören und Machen von Musik, über Diskussionen zu ethischen, politischen und religiösen Fragen kristallisierten sich Positionen heraus, die schnell mit der Realität kollidierten. Was recht harmlos mit Wanderungen und Partys begann, erfuhr bald eine enorme politische Aufladung. In ihrer typischen Mischung aus Paranoia und Planerfüllung reagierte die Stasi nervös auf jedes Anzeichen von Gruppenbildung. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) durchsetzte die Szene mit zahlreichen Spitzeln und „produzierte ihre Feinde damit selbst“, so Pietzsch.

Die Politisierung entlud sich in mehreren Konflikten, die in Verhaftungen und Abschiebungen in den Westen kulminierten. Höhepunkte waren zum einen die „Biermann-Affäre“ im Herbst 1976, die in Jena zu einer Flut von Protesten führte. Zum anderen der bis heute ungeklärte Tod von Matthias Domaschk im April 1981 in der MfS-Filiale von Gera. In diesem Fall war die in vielen Stasi-Dossiers unbekümmert benutzte NS-Terminologie des „Eliminierens“ und „Liquidierens“ konkrete Realität geworden – ein Schock, der sich vielen Wegbegleitern des Ermordeten ins Gedächtnis eingebrannt hat.

Pietzsch zeichnet die Chronologie des Jenaer Widerstandes bis ins Detail nach, zitiert zahllose Dokumente und Interviews, wobei sich mitunter gewisse Redundanzen ergeben. Die Arbeit entschädigt dafür jedoch, da sie eine Fülle bislang kaum bekannter Zusammenhänge enthüllt und dabei geradezu haarsträubende Geschichten präsentiert, die Stoff für mehrere Romane und Spielfilme böten.

So der waghalsige Plan der Szenegröße Thomas „Kaktus“ Grund, sich absichtlich von der Stasi anwerben zu lassen, um mittels dieser „Gegenkonspiration“ in den Apparat der Geheimpolizei einzudringen und diesen abzuschöpfen. Nach dem Tod von Domaschk fürchtete Grund um sein eigenes Leben und stellte sich unter den persönlichen Schutz des Landesbischofs.

Oder die Geschichte des späteren Kreuzberger Feinkosthändlers Michael Blumenhagen („Alimentari e Vini“), der zum ersten Todestag von Domaschk eine Skulptur an dessen Grab aufstellte, umgehend verhaftet wurde und erleben musste, wie sein Atelier als „Tatwerkzeug“ abgerissen wurde. Sehr spannend auch die ambivalente Rolle der Kirche. Einerseits befand sich fast die gesamte Leitung der Thüringer Landeskirche mit acht Spitzeln in fester Hand des MfS. Daneben produzierten sich noch zahlreiche Pfarrer, Diakone und Laien des kirchlichen Umfelds als eifrige Zuträger.

Andererseits gab es mit Pfarrer Walter Schilling eine wichtige Konstante von Widerstandsgeist. Schilling entwickelte bereits seit den Fünfzigerjahren von seinem Pfarramt im abgelegenen Braunsdorf aus Strategien für ideologiefreie Alternativen, zeigte sich dabei stets offen für neue Impulse der Verweigerung, bis hin zum Punk. Anders als einige seiner Kollegen, die sich 1989 kurz vor dem unübersehbaren Zusammenbruch der DDR-Diktatur medienwirksam in Szene setzten, ist Walter Schilling bis heute ein uneitler Basisarbeiter geblieben. CLAUS LÖSER

Henning Pietzsch: „Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970–1989“. Böhlau Verlag, Köln 2005, 390 Seiten, 34,90 Euro