KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH ZU DEN WÜTENDEN PROTESTEN IN ISTANBUL
: Eine erfolgreiche Revolte

Der Konflikt um den Gezi-Park wurde zur Abrechnung mit der Regierung Erdogan

Das Volk hat gesiegt“, titelt am Sonntag die oppositionelle Zeitung Cumhurriyet und bringt damit zumindest das Gefühl eines Teils der türkischen Bevölkerung auf den Punkt. Jahrelang, vor allem aber in den vergangenen Monaten hatte ein zunehmend autoritärer und arroganter werdender Ministerpräsident Tayyip Erdogan immer mehr Leute gedemütigt, bis sich jetzt die aufgestaute Wut explosionsartig entlud.

Statt auf die Einwände von Anwohnern, Umweltschützern, Architektenkammer und anderen Besetzern des zentralen Istanbuler Gezi-Parks einzugehen, verkündete Ministerpräsident Erdogan schon am ersten Tag des Protestes: Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt, wir werden unser Bauprojekt auf jeden Fall durchziehen. Statt eines Angebots zum Dialog kamen die Polizeischläger im Morgengrauen.

Doch dieses Mal hat die eigene Arroganz Erdogan in die Irre geführt. Der Konflikt um den Gezi-Park wurde zur Abrechnung mit dem Alkoholverbot, der Repression an den Universitäten, der Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der Dreistigkeit, mit der seine Partei, die AKP, sich das gesamte Land anzueignen versucht.

Mit jeder Nacht, in der Erdogan seine Polizei am Gezi-Park zuschlagen ließ, kamen am folgenden Tag mehr Leute zum Taksim-Platz. Mit einem Polizeiterror ohnegleichen versuchte die Regierung dagegen anzugehen.

Nach fünf Tagen zog schließlich Staatspräsident Abdullah Gül die Notbremse. Als bereits in fast allen großen türkischen Städten, selbst in konservativen Hochburgen wie Kayseri und Konya, Tausende auf die Straße gingen, beendete er den Staatsterror und ließ die Polizei zurückziehen.

Rund eine halbe Million Menschen feierten am Samstagabend auf dem Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls ihren ersten Sieg über Erdogan seit dessen Regierungsantritt vor mehr als zehn Jahren. Noch ist völlig unklar, was politisch daraus folgt. Erdogan war angetreten als jemand, der die Türkei gegen das Militär demokratisieren wollte. Nach 10 Jahren an der Macht wird er mehr und mehr als derjenige gesehen, der die demokratische Entwicklung verhindert. Doch seit den vergangenen Tagen ist Erdogan nicht mehr unantastbar. Die Leute haben gesehen, dass Widerstand erfolgreich ist. Sie werden sich seine Umerziehungsdiktatur nicht länger gefallen lassen.