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Archiv-Artikel

Exzess ohne Mittelfinger

Alle reden von Dagobert. Dabei ist der melancholische Schweizer Dandy derzeit nicht der Einzige, der Mut zum schlagerartigen Pathos beweist und der deutschsprachigen Popmusik einen neuen Glanz verpasst. Man stelle sich den Dandy mal mit Schnauzer vor, drücke ihm eine E-Gitarre in die Hand, reiße ihn aus der Bergeinsamkeit und platziere ihn auf Kreuzberger Straßen zwischen Studenten, Schnorrer und Touris: schon hat man Sedlmeir. Oder fast. Was fehlt: der Exzess. Denn so gemächlich es auch bei Sedlmeirs Songs hin und wieder zugehen mag – er ist ein arschcooler Rockstar mit Leib und Seele.

Der Berliner Singer-Songwriter hat gerade sein viertes Album „Singularität“ veröffentlicht. „Singularität“ wie Einzigartigkeit, wie Einsamkeit oder wie Einzelkampf. Hübsch abstrahiert der Titel all dies und bringt es zusammen auf elf Stücke, die mit den Worten „Menschen brauchen Rock ’n’ Roll“ beginnen. Sedlmeir zeichnet eine graue Welt aus Beton, Ämtern und Büros, in der ein bestimmtes Lebensgefühl dafür sorgt, dass keiner aus dem Fenster springt: die große Show. Die beherrscht Sedlmeir selbst wie ein Meister, das bezeugt das Video zu seiner ersten Single „Dinger“. Mit weißer Krawatte, epischer Gestik und hochgezogener Augenbraue zählt der Sänger eine Reihe von „Dingern“ wie Häuser, Apps und Senioren auf, die in seiner Welt allesamt zum Objekt verkommen sind. Subtil äußern sich Konsumkritik und -ekel über ein schwer erstarrtes Gitarrenriff, bis es am Ende zum verhaltenen Glitzerregen kommt.

„Sommer in Berlin“ hat indessen das Potenzial, zur optimistischen Hymne der Jahreszeit zu avancieren: „Lass dich an der Tür vom Berghain schikanieren / hol dir Tipps vom Billigfliegermagazin“. Zeilen wie diese offenbaren den nüchternen Beobachter in Sedlmeir, der gerne auch mal das ausspricht und auf den Punkt bringt, was alle längst wissen, aber keiner hinterfragt. Wie in „Sie liebt NY“, das Stück für die weltgewandte Kosmopolitin von heute, die schon überall war und jeden kennt, nur nicht dorthin geht, wo du bist; die weiß, was sie will, aber „dich will sie nicht“.

„Wir entschuldigen uns nicht“ mit Sänger Lisecki ist der dramaturgische Höhepunkt. Neben sprachlichen Freuden – etwa wenn Lisecki „Sei doch nicht immer hoch zu Ross“ auf „kauf lieber Villeroy & Boch“ reimt – ist es vor allem die Geste der Verweigerung als Gegengift zum Überdruss von menschelnder Heuchelei, die hier ganz galant und ohne Mittelfinger auskommt. Glanzvoll, dandyesk eben.FATMA AYDEMIR

■ Sedlmeir: „Singularität“ (Haute Areal)