Wenn alle Türen zufallen

Feine Unterschiede (3): Minigolf als Menetekel? Solche Probleme hätte man gerne. Wer sich über die neue Spießigkeit erregt, sorgt sich eigentlich um die Politikfähigkeit der Mittdreißiger. Und diese Sorge ist begründet – längst schlagen die aktuellen Anforderungen des Arbeitsmarktes zu Buche

Gibt es sie, die Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sichdas Antibürgerliche noch mit Selbstverwirklichung verknüpfen? Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, zwischen Aufbruchstimmung und Restekel

VON JAN ENGELMANN

Natürlich gibt es das: Freunde, die sich nun ein Kindermädchen leisten, höfliche Death-Metal-Bands, die im Berliner Club White Trash vor rot-weiß karierten Tischdeckchen spielen, gesellige Fondue-Abende unter sündhaft teuren Lüstern und angepapptem Stuck. Man hat es halt gern ein bisschen gediegener jetzt. Aber deshalb gleich eine Zeitenwende ausrufen, vor neuer Spießigkeit und Neokonservatismus warnen? Nö, ist mir zu übersprungshaft gedacht.

Bei sämtlichen Feuilleton-Debatten steht eines ganz bestimmt nie zur Debatte: das eigene, enge Milieu der beteiligen Journalisten. So werden Partygespräche im Berliner Kollegen- und Bekanntenkreis umstandslos zu kulturellen Großwetterlagen hochgerechnet: „Ach, der Trend am Prenzlauer Berg geht inzwischen zum Drittkind? Na, da werden die freistehenden Lofts wohl bald in Kitas verwandelt und der Wasserturm in Ursula-von-der-Leyen-Siegessäule umbenannt werden!“ – „Neulich habe ich übrigens einen Typen von der FDP in Steglitz kennen gelernt, der war eigentlich ganz vernünftig …“

Das Schema ist klar: Was hier, am point zéro der neuen Tendenzen, bereits seismografisch erspürbar ist, wird schon bald die ganze Republik beschäftigen. Und dabei spielt es auch keine Rolle, dass man anstatt über angebliche Verbürgerlichungstendenzen mit gleichem Recht auch über Verelendungstendenzen oder die strukturelle Langeweile von Journalisten reden könnte. Dem FAS-Mann Claudius Seidl ist darin zuzustimmen, wenn er die (auch hier in der taz) geführte Debatte zur neuen Bürgerlichkeit für ein reines Berlin-Phänomen hält. Woanders würde man angesichts von musikalischer Früherziehung, „Baby on Board“-Stickern auf VW Tourans und dem angeblichen Megatrend zur Minidatsche wohl achselzuckend zur Tagesordnung bzw. zum Schichtbeginn übergehen. Doch in Berlin, der deutschen Hochburg des neurotischen Lebensstilvergleichs, ist dies schlicht nicht möglich. Hier haben sich Sinnsuchende und urbane Scouts längst darauf verständigt, dass jede kleinste und unspektakulärste Alltagsbeobachtung schon soziologische Rückschlüsse auf epochale Zäsuren zulässt: „Ach, kiek mal die da, statt mit Pornobrille jetze mit Geigenkoffer unterwegs.“

Nur einmal angenommen, die Diagnose einer zunehmenden Verbürgerlichung ehemals linksalternativer und hedonistischer Milieus wäre kein Medienhype, sondern richtig ernst gemeint – woran ließe sie sich denn nachweisen? An der Stimmenverteilung bei Wahlen etwa? Eine Partei, die bürgerliche Wertvorstellungen allein auf sich vereinigen würde, ist weit und breit nicht in Sicht. Eher schon tragen PDS und SPD mit dem abgenutzten Inventar einer proletarischen Kleinbürgerlichkeit, FDP und Grüne mit ihrem zivilgesellschaftlichen Ethos und dem Fokus auf Bildungsthemen sowie die konservativen Traditionalisten bei der Union arbeitsteilig dazu bei, ein stabiles Grundgefüge bourgeoiser Vorstellungen vom guten Leben zu repräsentieren. Harte, statistische Variablen wie Alter, Geschlecht oder Beruf greifen zu kurz, um in diesem Wertemix noch die feinen Unterschiede zu erkennen. Anders gesagt: Die Mitte ist mittlerweile zu breit, um eine neue Mitte – denn genau die meint der Bürgerlichkeitsdiskurs, ohne dass es jemals so offen gesagt würde – exakt davon abzusetzen.

Für Parteien ist es verhängnisvoll, die eigene Zielgruppe nicht genau zu kennen, für die werbetreibende Wirtschaft nicht minder. Kein Wunder also, dass sich findige Markforscher aufgemacht haben, um die publizistische Zeitgeist-Ethnografie mit empirischen Untersuchungsmethoden auszustechen. So etwa das Mannheimer Sigma-Institut, das zehn unterschiedliche Milieus in Deutschland voneinander abgrenzt. Dessen Leiter, Carsten Ascheberg, erklärt, er sehe die aktuelle Bürgerlichkeitsdebatte „in hohem Maße kritisch“. Befragungen von Personen-Clusters über Jahre hätten ergeben, dass die jeweilige Selbstverortung in soziokulturellen Milieus ausgesprochen stabil sei, unabhängig von individuellen Brüchen in der Biografie. „Was wir allerdings beobachten konnten, war eine massive Bewegung vom postmodernen, also dem primär an Lifestyle interessierten Milieu in das hedonistische Lager, wo sich die Eskapisten und Bohemiens tummeln. Dies hat zu tun mit der zunehmenden Prekarisierung des Erwerbslebens, die vielen Menschen echte Frustrationserlebnisse beschert hat. Die Alterskohorte der heute 30- bis 35-Jährigen, die sich bis zum Jahr 2000 nicht abstiegsbedroht fühlen durfte, musste erleben, wie das ist, wenn plötzlich alle Türen zufallen. Wir leben nun wieder in der credential society, in der nicht mehr lockere Skills, sondern nur noch perfekte Abschlüsse zählen.“

Viele Diskutanten in der Bürgerlichkeitsdebatte sind sich darüber einig, dass die ökonomische Verunsicherung die Suche nach verlässlichen, stabilen Rahmenbedingungen vorantreibt. Und in der Tat kann man, dazu bedarf es wohl keiner empirischen Forschung, sich sehr gut ausmalen, dass eine „freigesetzte“ Webdesignerin, der es leider an so genannter Entlassungsproduktivität mangelt, einen festen Job zur Abwechslung mal ganz dufte fände. Aber die gerade kursierende Verbürgerlichungsthese besagt ja im Grunde, dass diese Suche nach einer „neuen Verbindlichkeit“ (Michael Rutschky) bereits so weit geht, dass solche Leute gleich Merkel gut finden und damit ihre Zustimmung zu den bestehenden Verhältnissen demonstrieren. Doch muss man im Ernst schon von Affirmation sprechen, wenn in den Bars vermehrt Blumentöpfchen aufgestellt werden und Hollywood-Schaukeln wieder als cool gelten? All diese Retroposen, die mehr oder weniger direkt auf eine verklärte Alltagskultur der Vergangenheit zurückverweisen, sind doch schon in sich zigmal ironisch gebrochen und immer nur ein weiterer Ausweis dessen, was die Kultursoziologie längst als Identity Engineering kategorisiert hat. Minigolf als Menetekel? Meine Güte, solche Probleme hätte man gerne.

Wem der Neo-Bürgerschreck in die Beine fährt, der sorgt sich im Grunde um die politische Motivationsfähigkeit von relativ jungen Leuten, die durch ihre Sozialisierung in Wendezeiten selbst Weltanschauungen für relaunchbar halten. Und diese Sorge ist nun durchaus begründet. Denn dass die aktuellen Anforderungen des Arbeitsmarktes einer Uniformisierung der Lebensläufe und einer Anpassung des Verhaltens Vorschub leisten, dürfte niemand ernsthaft bestreiten. Wem nur noch soft skills abverlangt werden, der wird für eine knallharte Kaderschulung eben nicht mehr in Frage kommen.

Für das Sigma-Institut ist nachweisbar, dass die politischen Präferenzen sehr stark mit dem jeweiligen Typus der Berufsausübung zusammenhängen. Ascheberg erklärt: „Das moderne Arbeiternehmermilieu erwartet im Grunde genauso einen postheroischen, kooperativen Politikstil, wie ihn Angela Merkel jetzt vertritt. In ihrer eigenen Arbeit, etwa als IT-Berater, haben diese Leute ja auch ständig mit Systemregulierung zu tun und sind voll auf Teamorientierung getrimmt. In Bezug auf die familiäre Lastenverteilung und Emanzipation haben sie sich inzwischen weit von der Elterngeneration entfernt. Sie setzen auf stabile Beziehungsmuster, in allen Lebensbereichen. Doch ihre Entlassungsangst führt dazu, dass bestimmte Lebensstilaussagen, wie etwa das Bedürfnis nach dem richtigen Gleichgewicht von Beruf und Familie, immer wichtiger genommen werden.“

Genau das ist der entscheidende Punkt. Es handelt sich bei all dem, was Grundlage der Bürgerlichkeitsdebatte bildet, um aggregierte Lebensstilaussagen. Eben nicht um unverrückbare soziale Identitäten. Marketingexperten haben längst begriffen, dass die Menschen sich nicht mehr nach totalitären Lebensentwürfen ausrichten, sondern schlicht ihr eigenes Ding machen wollen. Journalisten dagegen brauchen fixe Markierungen und begriffliche Zaunpfähle, um ihren Claim abzustecken. Wenn sie etwas ehrlicher sich selbst gegenüber wären, dann erzählten auch sie über ihre schwierige Suche nach dem kleinen Glück und die vielen Widersprüche und Kompromisse, die damit einhergehen. Da sie aber von Berufs wegen einen blinden Fleck besitzen, geilen sie sich an den Verhaltensweisen anderer Leute auf, um bloß das eigene Schrebergartentürchen geschlossen zu halten.

Für alle jene, die sich nun als Neo-Bürger gelabelt fühlen, gilt jedoch in gleichem Maße, dass sie auf dem Holzweg sind. Gerade gut ausgebildete Mittdreißiger, denen ihre ungewisse Zukunft den Schlaf raubt, sollten sich einmal überlegen, ob der Rückzug ins Private und ein distanziertes Verhältnis zur immer schon korrumpierten politischen Klasse tatsächlich bestens dafür geeignet sind, um aus der Misere herauszukommen. Vielleicht doch in die Gewerkschaft eintreten? Hmm. Es ist halt blöd, wenn man milieubedingt zum Fremdeln neigt.

Der Autor lebt als Journalist in Berlin. Am 17. 1. schrieb in dieser Reihe Norbert Bolz, am 24. 1. Mark Terkessidis