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Archiv-Artikel

Wirtschaftsexperte setzt sich nach Frankreich ab

RUSSLAND Der Liberale Sergei Gurijew befürchtet, in den Knast zu kommen und angeklagt zu werden

Präsident Wladimir Putin bestreitet, dass es Drohungen gegen Gurijew gibt

MOSKAU taz | Sergei Gurijew war ein Optimist. Auf internationalen Wirtschaftsforen warb der renommierte Ökonom unermüdlich für Russland. Westliche Investoren gaben viel auf sein Wort. Gurijew hatte mit der New Economic School (NES) in Moskau nicht nur eine neue Wirtschaftshochschule auf die Beine gestellt, die nach zehn Jahren mit zu den besten der Welt zählt.

Gurijew wirkte auch an mehreren Regierungsprogrammen mit und setzte sich aktiv für das Modernisierungsprojekt Skolkowo ein, das der frühere Kremlchef Dmitri Medwedjew als russisches Pendant zum Silicon Valley aus der Taufe heben ließ.

Gurijew war ein sogenannter System-Liberaler, der zur Elite gehörte, sich aber trotzdem die Freiheit nahm, kritische Anmerkungen zu machen. An seiner Loyalität gegenüber dem Kreml ließ er indes nie Zweifel aufkommen. Inzwischen reicht Loyalität nicht mehr, in Wladimir Putins dritter Amtszeit wird totale Loyalität verlangt. Wer die nicht garantiert, muss mit Konsequenzen rechnen oder fliehen.

Wie Gurijew, der vergangene Woche aus dem Urlaub in Paris nicht mehr nach Moskau zurückkehrte und von allen Ämtern zurücktrat. Es sei in „Paris besser als in Krasnokamensk“ schrieb er auf Facebook in Anspielung auf das sibirische Straflager, in dem der Exölmilliardär Michail Chodorkowski einen Teil seiner ersten Haftstrafe verbüßte.

Seit ein paar Tagen ist Gurijews Flucht amtlich. Er werde nicht zurückkehren, solange nur die geringste Gefahr bestehe, die Freiheit zu verlieren, sagte er der New York Times. Niemand habe ihm Garantien geben können, nicht im Gefängnis zu landen.

Der Fall Chodorkowski hätte sich auch zu einer Causa Gurijew ausweiten können. Im April wurde der Ökonom vom russischen Ermittlungskomitee (SK) vorgeladen und zunächst als Zeuge verhört. Es ging um Gelder, die vom damaligen Ölkonzern Yukos für ein Gutachten über den zweiten Chodorkowski-Prozess an Gurijews Institut NES gezahlt worden sein sollen. Das Gutachten von sechs unabhängigen Juristen hatte der damalige Kremlchef Dmitri Medwedjew in Auftrag gegeben. Verfahren und Schuldspruch gegen Chodorkowski seien nicht haltbar, urteilte die Sechsergruppe. Daraufhin wurden alle Gutachter verhört und ihre Büros durchsucht. Bei Gurijew wurde auch der E-Mail-Verkehr der letzten fünf Jahre konfisziert. Alle Beteiligten müssen mit einer Anklage wegen „Behinderung der Justiz“ rechnen, worauf bis zu vier Jahre Gefängnis stehen.

In Moskau wird vermutet, dass die Ermittler auf der Suche nach Material für einen weiteren Chodorkowski-Prozess sind. Eigentlich müsste der Exoligarch 2014 freigelassen werden, was der Kreml jedoch verhindern möchte. Auch wenn sich Zahlungen aus dem Umfeld von Yukos nicht nachweisen lassen, könnte daraus eine Anklage wegen Behinderung der Justiz werden.

Denn Gurijew hatte noch etwas Unverzeihliches begangen, indem er Sympathien für den Oppositionellen Alexei Nawalny äußerte. Dessen Stiftung zur Korruptionsbekämpfung überwies er 10.000 Rubel (250 Euro) und riet den Machthabern: „Beseitigt die Korruption, und die Opposition ist weg!“ Präsident Wladmir Putin bestritt übrigens, dass es Drohungen gegen Gurijew gebe. „Niemand bedroht ihn. Wenn er zurückkommen will, soll er zurückkommen“, sagte er am Dienstag in Jekaterinenburg.

KLAUS-HELGE DONATH