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Archiv-Artikel

Der Nachbar kehrt zurück

Mehmed Memic ist der Einzige seiner Familie, der nach der Abschiebung nach Bosnien-Herzogowina zurück ins brandenburgische Belzig gekommen ist. Das ging nur mit Hilfe einer engagierten Familie

„Jetzt schwebe ich in den Wolken und muss erst mal wieder runterkommen“

AUS BELZIG KERSTIN HENSEKE

Als Mehmed Memic an diesem frostklaren, sonnigen Januartag an die Tür seines Schuldirektors klopft, schließt er symbolisch einen Kreis. Er wolle sich nur zurückmelden, sagt der 20-jährige Bosnier in seiner bescheidenen Art. Doch hinter der Müdigkeit in seinen Augen strahlt ein ungekanntes Leuchten. Einen Tag und eine Nacht hat er im Bus von Sarajevo in Bosnien-Herzegowina über Kroatien und Slowenien verbracht. Keinen Tag unnütz gezögert, nachdem er das Visum nach Deutschland endlich in der Hand hielt. Mit jedem der mehr als 1.000 Kilometer schwand die Anspannung der vergangenen Monate, wandelte sich die jahrelang gelebte Unsicherheit in eine Art Euphorie: Er ist ein freier Mann, ein Bürger mit Rechten wie andere auch.

Mehmed kommt zurück nach Belzig. Gemeinsam mit seiner Familie wurde er im August 2005 nach Bosnien-Herzegowina abgeschoben. Er ist der Einzige, der nun wieder in der brandenburgischen Kleinstadt lebt. Mehmed darf seine begonnene Schulausbildung beenden.

Fünf Jahre lang hatte er gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Elmir, dem Vater und der serbischen Stiefmutter als Asylbewerber in Belzig gelebt. Sie waren geflohen vor den Schutzgelderpressungen der Mafia und den Anfeindungen, denen sich die gemischt ethnische Familie im zunehmend national orientierten Nachkriegsbosnien ausgesetzt sah.

An einem Freitag im vergangenen August war die Familie Memic, die als gut integriert galt, nach abgelehntem Asylverfahren im Morgengrauen aus ihrer Wohnung geholt und abgeschoben worden. Mit 20 Kilogramm Gepäck pro Person. Zurück blieben eine gemütlich eingerichtete Wohnung, ein blühender Kleingarten und ratlose Mitmenschen. Eine Protestwelle quer durch politische Lager und gesellschaftliche Schichten wogte durch die Kleinstadt.

In der Woche vor der angekündigten Abschiebung hatten Memeds MitschülerInnen hunderte von Unterschriften gesammelt und waren mit der Forderung für ein Bleiberecht öffentlichkeitswirksam vor das Landratsamt gezogen. Erfolglos, denn Hausherr Lothar Koch (SPD) würdigte das Engagement der Jugendlichen zwar als „wertvolles Korrektiv“. Er teilte aber nicht deren Meinung, sich über Gerichtsurteile hinwegsetzen zu müssen, die sie als inhuman empfanden.

Als die Mitarbeiter der Ausländerbehörde des Landkreises Potsdam-Mittelmark kamen, um die Familie abzuholen, saßen die SchülerInnen bereits dicht an dicht auf der Treppe. Sie wichen auch nicht, als Behördenchef Hans-Jörg Hallex sie vor Strafanzeigen warnte. Sie erhoben sich erst, als er Mehmeds Rückkehr in Aussicht stellte. „Nur zum Schulbesuch“, lautet der Visumsvermerk in Mehmeds druckfrischem Reisepass. Doch nicht deshalb, sondern weil sie zu ihm hielten, führt ihn sein erster Weg in Deutschland – auch dies ist ein Freitag – zu den Freunden in die Belziger Gesamtschule.

Das sprachliche Bild vom Kreis, den Mehmed damit schließt, stimmt nicht in jeder Hinsicht. Noch nie war die Welt des jungen Mannes offener als jetzt. „Früher habe ich immer einen schweren Rucksack mit mir herumgetragen. Die Familie Kriegler hat ihn mir abgenommen, das ist wie Schwung von unten, ich schwebe irgendwo in den Wolken und muss erst mal wieder runterkommen“, sagt Mehmed. Er presst eines der vielen Kissen an sich, die die gemütliche Sitzecke in der krieglerschen Küche bevölkern. Hier bei den Krieglers in Wiesenburg, einem Dorf, zehn Kilometer von Belzig entfernt, ist nun sein Zuhause.

Dagmar und Winfried Kriegler haben Mehmed aufgenommen. Sie verpflichteten sich nicht nur, sämtliche Kosten für ihn zu tragen. Sondern sie beglichen auch die Aufwendungen, die dem Staat für seine Abschiebung entstanden. Das waren die Bedingungen, dass die fünfjährige Einreisesperre aufgehoben und im Schengener Computernetzwerk gelöscht wurde, mit der sich Europa normalerweise vor abgeschobenen Flüchtlingen schützt.

Knapp 1.000 Euro mussten die Krieglers damit für etwas hinblättern, was sie im Vorfeld nicht mehr aufhalten konnten.

Zunächst musste dem Urteil des Verwaltungsgerichts entsprochen und Mehmed mit abgeschoben werden. Viele in ihrem Umfeld haben dies als Hohn empfunden. Das Paar zuckt mit den Schultern. So sind die Gesetze in diesem Land. Die Ausländerbehörde des Landkreises hat sie nicht gemacht. Sie hat kooperiert, nachdem die Krieglers zum Landrat gegangen und ihre Aufnahmeabsichten glaubhaft gemacht hatten. „Mehmed war der Einzige seiner Familie, der ohne polizeiliche Begleitung flog. Das senkt die Kosten natürlich enorm. Die anderen hatten sogar zwei Beamte neben sich“, erzählt Dagmar Kriegler.

Sie sei froh, das Prozedere hinter sich zu haben, das bürokratisch und zermürbend gewesen sei. Allein das Hin und Her der notwendigen Anträge und Dokumente. Sie gingen teilweise auf dem Postweg verloren und wurden schließlich via Internetcafé in Sarajevo ausgetauscht. Die ständigen Vorsprachen auf der Ausländerbehörde und dieses scheinbar ewige Warten kosteten Zeit und Nerven.

Eine Kraftprobe, obgleich Dagmar und Winfried Kriegler das Zupacken, Dranbleiben und Durchkämpfen gewohnt sind. Die beiden Tierärzte mit gut gehender Praxis haben vier Kinder großgezogen. Drei von ihnen sind bereits aus dem Haus, sie arbeiten als Tierärztin, Pilot, Maschinenbauingenieur. Unter den Schlittenhundesportlern gehört die Familie zur Weltspitze. Sie hat im eigenen Team etliche Meistertitel eingefahren.

Mit 16 absolvierte Mehmed in der Tierarztpraxis der Krieglers sein Schülerpraktikum, verbrachte von da an alle Ferien in Wiesenburg. „Jedes Mal war ich danach besser in der Schule, konnte im Fußball schneller laufen“, erinnert sich Mehmed, „ich war mit Energie gefüllt, die es bei mir zu Hause nicht gab.“

Dagmar Kriegler:„Leer gelaufenes Leben – das wollen wir nicht einfach hinnehmen“

„Der Junge ist immer mehr Teil der Familie geworden“, erklärt Winfried Kriegler auf die Frage nach dem Warum. Der persönliche Kontakt hat ihn zugleich für die problematische Lebenslage von Asylbewerbern sensibilisiert. „Wir sind überhaupt nicht damit einverstanden, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge hier oft viele Jahre quasi zwischen zwei Grenzen leben müssen“, weiß sich Kriegler mit seiner Frau einig. „Entweder man wickelt die Verfahren zügig ab und schickt die Leute zurück, oder man lässt sie hier leben. Aber dann mit allen Rechten.“

Als Gutmenschen sehen sich die Krieglers nicht. „Wir haben diesen Willen bei Mehmed gesehen und wollten das unterstützen. In Bosnien wäre es aus gewesen mit der Schule. Außerdem haben wir beobachtet, wie ihn dieses perspektivlose Warten zermürbt hat“, sagt Dagmar Kriegler. „Leer gelaufenes Leben, und das in diesem Alter, wo einem normalerweise alles offen stehen sollte. Wir wollten das nicht einfach hinnehmen.“

Dass sich solche Prinzipien nicht jeder leisten kann, ist den Krieglers bewusst. „Na, hat nicht schon der alte Marx gesagt, wer das Kapital hat, hat die Macht?“, fragt Dagmar Kriegler augenzwinkernd. Soll heißen: Wer es sich leisten kann, soll seine Verantwortung wahrnehmen und Perspektiven schaffen.

Krieglers Jüngster, so alt wie Mehmed, absolviert derzeit in einem Seniorenheim in Israel seinen Zivildienst. „Wenn meine Kinder je irgendwo in Schwierigkeiten geraten, dann hoffe ich doch auch, dass jemand da ist, der hilft“, sagt Dagmar Kriegler. Und grundsätzlich: „Was ich mir für meine eigenen Kinder wünsche, soll auch anderen möglich sein. Was Mehmed nun daraus macht, ist seine Sache.“

Und was tut man mit dieser plötzlichen Freiheit? Mehmed, immerfort selig lächelnd, zuckt beinahe hilflos mit den Schultern. Es erst mal begreifen, dann ein gutes Abi. Und reisen. Er würde gern Deutschland kennen lernen. Als Asylbewerber durfte er seinen Landkreis nur mit Genehmigung verlassen. Mehmed hat deshalb in den vergangenen fünf Jahren nur Belzig und Berlin gesehen.