„Alte Elite hängt am Status quo“

Deutsche Bildung treibt in den frühen Jahren zu viel Auslese, später zu wenig, findet Michael Zürn. Der Gründungsdekan der Hertie School of Governance will das Elitemonopol der Juristerei knacken – und Spitzenpersonal für den Wandel ausbilden

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Zürn, der Wettbewerb um den Titel Eliteuni ist in vollem Gange. Alle reden über Elite. Was ist das eigentlich?

Michael Zürn: Wir benutzen diesen Terminus in unserer Selbstdarstellung nicht.

Aber Sie residieren doch unter dem Dach der vermeintlichen Eliteschmiede der Wirtschaft, die am Freitag ihr edles Berliner Domizil eröffnet?

Ja, auch wir sitzen im Staatsratsgebäude, und wir freuen uns auf die Kooperation. Allerdings, es sind zwei getrennte Einrichtungen. Wir sind die Hertie School of Governance. Die European School of Management und Technology ist eine Business School.

Was ist der Unterschied?

Unser Ziel als Professional School für Public Policy ist nicht die Ausbildung für die Chefetagen der Wirtschaft, sondern die Ausbildung öffentlicher Verantwortungsträger. Dazu gehören in meinen Augen die Ministerialbürokratie und internationale Organisationen wie die Weltbank genauso wie Nichtregierungsorganisationen und Führungspositionen in der Zivilgesellschaft. Die strikte internationale Ausrichtung sorgt automatisch dafür, dass sich bei uns nicht junge Männer verabreden, die nächsten 50 Jahre zusammenzukungeln. Wir suchen ausgezeichnete internationale Leute, kein nationales young boys network.

Das ist nicht elitär?

Ich bleibe dabei, der Begriff hilft hier nicht. Da schwingt immer etwas mit, was wir ausdrücklich nicht anstreben: Elite als geschlossene Kaste, mit geheimnisvollen Zugangsregeln, ohne transparente Art der Rekrutierung. Das trifft auf uns nicht zu, wir wollen international, offen, leistungsbezogen sein …

und nicht exzellent, professionell, außerordentlich?

Bestimmt auch das. Das Problem ist doch, dass Deutschland ein Bildungssystem hat, das stark leistungsbereite, intelligente junge Leuten nicht genug fördert. Es fördert überhaupt zu wenig. Ich finde, es ist wichtig, für solche Leute Räume bereitzustellen, in denen sie sich voll entfalten können.

Zu welchem Preis übt man bei Ihnen für Spitzenjobs?

Ein Studienjahr kostet 10.000 Euro.

Wer kann das bezahlen?

Das ist nicht die Frage. Wir nehmen alle, die uns gut genug erscheinen – unabhängig davon, ob sie genug Geld mitbringen.

Wie macht man so was?

Das Bewerbungsverfahren ist zweiteilig. In der ersten Runde testen wir die Kandidaten und geben ihnen die Zulassung – aufgrund ihrer Qualität. In einem zweiten Schritt geben die Zugelassenen Auskunft über ihre finanziellen Möglichkeiten. Dann machen wiederum wir ein Angebot für ein Stipendium.

Wie viele Frauen sind unter Ihren Studenten?

Sie werden es nicht glauben, ganz genau die Hälfte.

Herr Zürn, wozu braucht das deutsche Bildungssystem eine Einrichtung wie die Hertie School of Governance?

Rückfrage: Woran liegt es denn, dass dieses Land sich so schwer tut, auf die neuen Herausforderungen von Staatlichkeit zu reagieren? Wir glauben, dass sich die politischen und administrativen Eliten dadurch auszeichnen, dass sie stark am Status quo orientiert sind und damit besondere Schwierigkeiten bei der Gestaltung des Wandels haben. Das hat mit der Sozialisation zu tun, mit den Mechanismen der Rekrutierung.

Welche sind das?

Ein fast immer rechtswissenschaftlicher Schwerpunkt, eine starke Ressortorientierung, Parteienpatronage. Die fest gefügten Karrierepfade innerhalb der Ministerialbürokratie müssen sich langfristig lockern.

Das ist althergebracht. Wie wollen Sie das mit jährlich 30 Absolventen ändern?

Erstens sind wir die nicht die Einzigen, die das feststellen. Zweitens fordern wir die Ministerien ja nicht ultimativ auf, ihre 150 Jahre alten Regeln der Elitenrekrutierung über den Haufen zu werfen. Wir wollen mit der Leistungsfähigkeit unserer Absolventen beeindrucken.

Wie denkt die Ministerialbürokratie darüber?

Es gibt dort die Bereitschaft, sich für andere Bewerber zu öffnen, zumindest Lockerungen einzuführen. Wir haben entsprechende Partnerschaften, etwa mit dem Kanzleramt, vereinbart. Aber wir müssen hart arbeiten, keine Frage, national wie international. Auf dem heimischen Markt gibt es ein Quasimonopol der Juristerei, das geknackt werden muss. International wird der Markt von erstklassigen Government Schools beherrscht.

Was ist Ihr Reformbeitrag für das Bildungswesen?

Wir werden akademische Exzellenz und zugleich professionelle Orientierung bieten, und das bei einer weiten disziplinären Offenheit. Wir glauben, dass unsere Absolventen so besser auf die Herausforderungen reagieren können, mit denen Politik und Administrationen fertig werden müssen. Die Auflösung der traditionellen Gemeinschaften, die Globalisierung, die demografische Krise. In den 70er-Jahren hatte das Land das höchste Wachstum und die niedrigste Arbeitslosigkeit innerhalb der EU, heute ist das Land bei beiden Indikatoren weit hinten. Vorsichtig formuliert haben traditionell ausgebildete politische Eliten enorme Schwierigkeiten, sich vom Status quo zu lösen. Wir versuchen Leute auszubilden, die nicht mehr auf die Logik des Nationalstaats fixiert sind.

Gibt es eine inhaltliche Fundierung der Ausbildung?

Gemeinwohlorientierung, die Überwindung von Partikularismen und die Vorstellung, erst das kollektive Ergebnis zu verbessern – und dann die Verteilungsfrage zu stellen.

Was meinen Sie damit?

Ein neuer Sozialstaat wird immer noch eine unterste Linie der Absturzsicherung für alle beinhalten, aber auf etwas Neuem basieren: dem lebenslangen Recht auf Weiterbildung.

Ist das eine Umschreibung für Fördern und Fordern?

Wenn Sie in abgestürzte Wohnbezirke schauen, werden Sie Folgendes feststellen: Alle dort besitzen Mittel zum Konsum, keinen Luxus, aber die ganze Bandbreite des Konsumangebots ist vorhanden. Sobald es aber um Bücher geht, um kulturelles Kapital, um intellektuelle Neugierde, dann herrscht Fehlanzeige.

Warum kümmert sich eine Exzellenzeinrichtung wie die Ihre jetzt auch um Pisa?

Der internationale Vergleich zeigt: Die erschreckende soziale Selektivität von Bildungssystemen entsteht nicht aufgrund von Studiengebühren für Absolventen, die später gut verdienen. Sie entsteht vor allem durch einen hohen Anteil an privaten Belastungen für Vorschulkinder, die im internationalen Vergleich skandalös hoch sind. Plakativ gesagt: Die Mittelklasse leistet sich freie Studienplätze – und die Rechnung bezahlen die Kinder aus Unterschichten und mit Migrationshintergrund, die bis zum Schulstart bereits einen unaufholbaren Rückstand haben. Diese Fragen wollen wir zusammen mit dem Berliner OECD-Büro öffentlich diskutieren.