Akustische Verbindung ins Jenseits

Der unerklärliche Selbstmord eines Filmregisseurs im Jahr 1997 und die tief greifenden Folgen für einen Schriftsteller: Mit seinem neuen Roman „Tagame Berlin-Tokyo“ setzt der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe seinem Freund Juzo Itami ein literarisches Denkmal

Bei Oe fühlt man sich wie der Fremde im Türeingang. Er schafft es gleichzeitig, alles von sich preiszugeben und nichts

Scham, Wut und Hilflosigkeit? Man kann sich nur respektvoll seine Gedanken machen und versuchen, die Gründe zu verstehen, die den japanischen Filmregisseur Juzo Itami 1997 dazu brachten, sich aus dem achten Stock eines Gebäudes zu stürzen. Schon Monate vorher beschäftigte sich ein Boulevardmagazin ausgiebig mit einer angeblichen Liebesgeschichte zwischen dem verheirateten Itami und einer 26-jährigen Schauspielerin. Die Ehefrau glaubte ihm, die Öffentlichkeit nicht, und Itami machte sich auf seinen letzten Weg.

Itami war auch der Freund und Schwager des Schriftstellers und japanischen Nobelpreisträgers Kenzaburo Oe, der bis zum heutigen Tage mit der Schwester Itamis verheiratet ist, und Oe hat nun in seinem jetzt auf Deutsch vorliegenden, vor fünf Jahren im Original erschienenen Roman „Tagame Berlin-Tokyo“ dieser Freundschaft ein literarisches Denkmal gesetzt. Dabei versucht Oe weniger, eine mögliche Antwort für Itamis Selbstmord zu finden, sondern er begibt sich auf die Spuren einer Jahrzehnte währenden Freundschaft.

Kogito und Goro heißen in Oes Roman die beiden Freunde, sie kennen sich seit ihrer Teenagerzeit. Der eine, Kogito, ist ein erfolgreicher und bekannter Schriftsteller geworden, der andere, Goro, ein nicht minder bekannter und erfolgreicher Filmregisseur. Kogito bekommt nach dem Freitod von Goro dessen letzte Tonbänder zugesandt, mitsamt einem altmodischen Rekorder. Schon zu Lebzeiten hat Kogito dutzende von Goro besprochene Bänder erhalten, sich aber nicht sonderlich dafür interessiert. Nun, nach dem Tod des Freundes, werden die Kopfhörer plus Aufnahmegerät zu einem verlängerten akustischen Arm ins Jenseits, und Kogito stellt entsetzt fest, wie sehr ihn die solcherart zustande gekommenen „Gespräche“ mit Goro berühren und interessieren.

Gut vorstellbar, dass es Kenzaburo Oe genauso gegangen ist und er nach jahrelang auferlegter Diskretion befand, dass seine Beziehung zu Itami nun auch die Öffentlichkeit etwas angeht – zumal sein Schreiben von jeher stark autobiografisch grundiert ist. Wer aber jetzt einmal mehr hofft, das Privatleben des Literatur-Nobelpreisträgers erschöpfend kennen zu lernen, irrt. Denn bei Oe fühlt man sich immer ein wenig wie der Fremde im Türeingang, er schafft es wieder einmal, alles von sich preiszugeben und dann wieder nichts. Da gibt es die Romane seiner Kindheit, die er auf der kleinsten der japanischen Hauptinseln, auf Shikoku, verbracht hat. Erst seit 1988 ist diese durch eine Brücke mit der Hauptinsel Honshu verbunden. Und es gibt natürlich die Romane und Erzählungen, die die Geburt seines geistig behinderten Sohnes zum Thema haben. Eine mit schlechtem Gewissen aufgeladene und oft reichlich selbstmitleidige Auseinandersetzung, die ihre große Qualität aus der Tiefe der Erinnerungen bezieht, von der fließenden Sprache ganz abgesehen.

Diese Sprache treibt einen auch jetzt wieder entschlossen in diesen Roman hinein. „Tagame Berlin-Tokyo“ ist zunächst sperrig in seiner Komposition, besteht aus vielen Rückblenden, Erinnerungen und poetologischen Betrachtungen, lässt einen aber bald in seinem ruhigen und immer weiter in die geistige Tiefe Oes führenden Vorwärtstreiben nicht mehr los.

Eine Weile also verschanzt sich Kogito mit den Kassetten in seiner Bibliothek, nächtigt auf einer Militärliege und plaudert mit dem toten Freund, schaltet das Band ein und aus, wie er es braucht, und bringt seine Ehefrau um den Schlaf. Bis ausgerechnet sie ihn aus seiner egomanen Trauerarbeit herausholt und zu einer Gastprofessur nach Berlin schickt. Den Schatten Goros wird er hier jedoch trotzdem nicht los, und schnell wird seine ambivalent-komplexe Einstellung zu diesem offensichtlich: Während er darunter leidet, aus der westlichen Kultur Inspiration und viel Motivation für sein eigenes schriftstellerisches Werk bezogen zu haben, beneidet er seinen toten Freund noch immer um dessen geistige Unabhängigkeit. Und dabei bekommt man während der Lektüre mehr und mehr das Gefühl, wenn schon nicht dem privaten Leben Oes, so doch seinen Auseinandersetzungen mit dem Schreiben und den Kämpfen mit der eigenen Geschichte bedeutend näher gekommen zu sein. CLAUDIA SIEFEN

Kenzaburo Oe: „Tagame Berlin-Tokyo“. Aus dem Japanischen von Nora Bierich, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2005, 320 Seiten, 19,90 €