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Archiv-Artikel

Ein schuldgeplagter Junge

Mit „Walk the Line“ hat James Mangold das Leben Johnny Cashs verfilmt. So sehr sich Joaquin Phoenix in der Titelrolle auch dem Musiker anverwandelt, Cashs Faszination vermittelt sich nicht

Der Sound wird immer rasender; irgendwann scheint es, als spielten unsichtbare Hände die Instrumente

von ANDREAS BUSCHE

Wie schon 2005 eröffnet auch dieses Kinojahr mit einer ambitionierten Musikerbiografie, die sich nahezu enthemmt als Oscar-Material profiliert. Knapp ein Jahr nach „Ray“ startet morgen James Mangolds Johnny-Cash-Würdigung „Walk the Line“ in den Kinos; seinen Anspruch auf die wichtigste Auszeichnung der amerikanischen Filmbranche hat das Biopic bereits angemeldet. Mit drei Golden Globes als Lackmustest scheint die Rechnung aufzugehen. Man kann den Film getrost als Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Academy betrachten. Und Cash ist, zwei Jahre nach seinem Tod, längst reif für ein Lebensporträt: eine der zähesten und unergründlichsten Gestalten der amerikanischen Popkultur, ob als Country-Outlaw, american icon, christlicher Wanderprediger oder erbitterter Kriegsgegner. Ein Film über das Leben von Johnny Cash interessiert immer.

Nun ist das Biopic ein äußerst undankbares Film-Genre – und formal sicher eines der konventionellsten. Kaum ein Genre ordnet seinem Thema die Form rigoroser unter; die filmische Dramaturgie zwingt das komplexe Leben notwendigerweise in die symbolische Ordnung einer Initiationsgeschichte, die sich an markanten Schlüsselerlebnissen entlang erzählt. Mangold, um es vorwegzunehmen, hat diese Formel mit „Walk the Line“ nicht geknackt. Er hat allerdings auch der Versuchung widerstanden, Cashs über fünf Jahrzehnte währende Achterbahn-Karriere auf zweieinhalb Stunden herunterzubrechen. Es sind die ersten dreißig Jahre, die Mangold interessieren, angefangen mit Cashs Kindheit auf einer Baumwollplantage in Arkansas bis zu seinem legendären Auftritt im Gefängnis von Folsom im Jahr 1968 – auch das Jahr, in dem Cash seine Jugendliebe June Carter (Reese Witherspoon) heiratete. Die Schlüsselmomente in Cash frühem Leben hakt „Walk the Line“ brav ab, und würde Joaquin Phoenix Cash nicht so rastlos-manisch spielen, der Film wäre kaum weiter bemerkenswert.

Hier wird die grundlegende Crux des Biopics wieder augenscheinlich: Physiognomische Transformationen und künstlerische Mimesis allein machen noch keinen interessanten Film. Viel zu oft muss das Biopic sowieso nur dafür herhalten, persönliche Eitelkeiten zu befriedigen. Beide Erkenntnisse treffen auch auf „Walk the Line“ zu. Phoenix, der einige von Cashs Songs – recht überzeugend – selbst eingesungen hat, ist wirklich phänomenal als schuldgeplagter Junge vom Lande, der sich aufmacht, die Welt zu erobern, und sich beinah an ihr zugrunde richtet. Den Film rettet es trotzdem nicht.

Phoenix’ Darstellung liefert jedoch schönes Anschauungsmaterial für den kreativen Prozess der Charakterassimilation. Denn Mangolds Film schildert Cashs Selbstfindungsprozess im gleichen Maße, wie er auch Phoenix’ Cash-Werdung verfolgt. Die leicht verächtlich aufgeworfene Oberlippe, den immer selbstsicherer werdenden Gang, schließlich geht ihm sogar Cashs bekannteste Pose in Fleisch und Blut über: die geschulterte Gitarre als Waffe, mit der er seine Salven ins Publikum feuert.

Der Probe-Session in Sam Phillips Sun Studio, wo Cash später auch Elvis, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins kennen lernen wird, kommt darum in „Walk the Line“ eine zentrale Rolle zu. Es ist die bislang vielleicht überzeugendste Verbildlichung eines künstlerischen Entstehungsprozesses im Kino: Man sieht, wie ein Sound – nicht bloß ein Song oder Songwriter – entsteht; man wird Zeuge einer kleinen musikalischen Revolution. Dieser Sound – „steady like a train, sharp like a razor“, beschreibt June Carter ihn – überkommt Cash, als Phillips ihn auffordert, den einen Song zu spielen, der ihm beim Anblick eines Menschen in den Sinn kommt, der vor ihm im Straßengraben verreckt. „Das ist der Song, der Menschenleben rettet.“

Cash erinnert sich an seine Rohfassung von „Folsom Prison Blues“, die er in einsamen Nächten als GI in Oberbayern auf seiner Gitarre geklimpert hat, und beginnt zu spielen. Zunächst verhalten. Seine überrumpelten Bandmitglieder steigen langsam ein und versuchen, sich Cashs Rhythmus anzupassen. Der wird immer rasender, und irgendwann scheint es, als spielten unsichtbare Hände die Instrumente; dazu kommt Phoenix’ dämonischer Blick. Der Zug ist nicht mehr zu stoppen.

Woran „Walk the Line“ letztlich scheitert, ist die Vermittlung von Mythos und Künstlerleben. Mangold kann nicht erklären, worin die anhaltende Faszination an Johnny Cash eigentlich besteht. Phoenix’ Cash ist im Grunde nichts weiter als ein großes Baby mit Vater-Komplex und unverarbeiteten Schuldgefühlen wegen des frühen Todes seines Bruders. Zwar suggeriert der Film einen vagen Zusammenhang zwischen Cashs familiären Verhältnissen und seiner wachsenden Spiritualität sowie seinem Faible für Tod und Verdammnis. Doch das spezifisch Interessante an ihm – die inneren Widersprüche von Wertekonservatismus und Dissidenz sowie die konkreten Zusammenhänge von Elternhaus, gesellschaftlichem Umfeld und Musiksozialisation – geht irgendwo in der filmischen Übersetzung verloren. Das mag auch daran liegen, dass Mangold zu früh aus Cashs Leben ausblendet. Es fällt schwer, sich ein wirkliches Bild von Cash zu machen, ohne seine Karriere in den Siebzigerjahren – mit dem späten Nixon, dem Aufkommen von Countryrock und der Kommerzialisierung des Nashville-Sounds – zu berücksichtigen. So wirkt Johnny Cash am Ende von „Walk the Line“ seltsam unfertig, wie noch nicht voll entwickelt.

Ursprünglich war diese Filmkritik ja als Rock-’n’-Roll-Kritik geplant, als Text, der dem Cool Johnny Cashs wirklich gerecht geworden wäre. Aber „Walk the Line“ bietet sich dazu, bieder wie der Film ist, nicht gerade an. Eher legt das Biopic nahe, dass sich Cashs Leben auch vortrefflich für eine Trilogie eignen würde. Material steht reichlich zur Verfügung. Der Anfang ist gemacht.

„Walk the Line“, Regie: James Mangold. Mit Joaquin Phoenix, Reese Witherspoon u. a., USA 2005, 135 Min.