Die Mär vom Staatsreichtum

Vom Überleben in der Krise

VON SABINE REINER

Bloß nicht ran an den Speck, könnte man meinen, ist die Devise der Mächtigen in Europa. Bei der mühsam ausgehandelten Vereinbarung zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer lässt sich die Politik schon wieder viel zu viel von der Finanzlobby reinreden. Erster Erfolg der Gegner: Angeblich weil die Abstimmungen überraschend länger brauchen, kann der Einführungstermin 1. Januar 2014 nicht eingehalten werden.

Allerdings: Von einer ordentlichen europaweiten Vermögensbesteuerung, die diejenigen treffen würde, die trotz Krise schon wieder reicher sind als je zuvor, war ohnehin nie die Rede. Das wäre auch ein krasser Wechsel in der Steuerpolitik gewesen. Denn derzeit werden bei den Vermögenderen nicht einmal die eigentlich fälligen Steuern verlässlich eingetrieben. Denn in Deutschland fehlen in den Steuerverwaltungen rund 11.000 Stellen.

Trotzdem geht der Beschäftigungsabbau weiter: Seit 2007 wurden 2 Prozent der Stellen gestrichen. Davon profitieren nur diejenigen, die steuerpflichtige Einnahmen verstecken können – und nicht der sogenannte kleine Mann, der angeblich in der Steuererklärung etwa bei den Angaben über den Weg zur Arbeit trickst.

Der grundsätzliche Unterschied zu den wirklich Reichen ist, dass die Beschäftigten keine Gestaltungsmöglichkeiten haben. Ihnen wird die Lohnsteuer direkt vom Arbeitgeber abgezogen. Anders bei denjenigen, die Kapital und Vermögen besitzen, aus denen sie Einkünfte erzielen. Sie können Posten hin- und herschieben und so oder so deklarieren. Auf diese Weise „gestaltet“ wird natürlich gerne, wenn die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, gering ist.

In anderen europäischen Ländern sieht es mit der Ausstattung der Steuerbehörden nicht viel besser aus – gerade angesichts der rabiaten Austeritätspolitik, die vor nichts haltmacht. Der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst hat dazu eine Studie veröffentlicht. Sie listet unter anderem auf, wie sehr einzelne Länder ihre eigenen Einnahmemöglichkeiten wegkürzen, nicht zuletzt auf Druck der Troika. Von 28 Ländern haben seit 2007 nur 4 die Beschäftigung in Steuerbehörden geringfügig aufgestockt: Luxemburg, Spanien, Zypern und Polen. Alle anderen haben gekürzt, teilweise mit zweistelligen Raten. Ein Minus von 17 Prozent in den baltischen Staaten Lettland und Litauen, in Irland sind es 13, in Portugal 12, in Griechenland 6 Prozent.

Und damit nicht genug: Angesichts zaghafter Versuche der hiesigen Oppositionsparteien, mit einer anderen Steuerpolitik Mehreinnahmen zu erzielen, überziehen Regierungsparteien und Unternehmerverbände das Land mit einer gnadenlosen Desinformationskampagne – allen voran die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Die Mittelschicht solle geschröpft werden, lautet einer der schrillen Anklageschreie. Und das, obwohl nach den verschiedenen Vorschlägen von SPD, Linker und Grünen für einen höheren Spitzensteuersatz jeweils weniger als die oberen 10 Prozent der EinkommensbezieherInnen draufzahlen müssten. Bei den Vorschlägen für eine Vermögensteuer oder Vermögensabgabe wäre es wegen der Höhe der vorgesehenen Freibeträge sogar nur gerade mal 1 Prozent der Bevölkerung.

■ Die 1962 geborene Autorin ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Volkswirtin. Sie leitet den Bereich Wirtschaftspolitik beim Bundesvorstand der Gewerkschaft Ver.di. 2004 war sie Gründungsmitglied von Intervention – Europäische Zeitschrift für Ökonomie und Wirtschaftspolitik.

■ An dieser Stelle wechseln sich wöchentlich unter anderem ab: Rudolf Hickel, Gesine Schwan, Niko Paech, Ulrike Herrmann und Jens Berger.

Der Staat habe doch genug Geld, die Steuereinnahmen seien so hoch wie noch nie, heißt es weiter. Formal stimmt das, ist gleichzeitig allerdings banal. Wächst die Wirtschaft, steigen die Steuereinnahmen ebenso wie Gewinne und Löhne – vorausgesetzt, es findet keine Verschiebung der Verteilungsverhältnisse statt, zum Beispiel durch Steuersenkungen. Im Vergleich zu den Projektionen der SteuerschätzerInnen aus der Vorkrisenzeit, also von 2008, liegen die Steuereinnahmen auch heute noch um 30 Milliarden Euro niedriger.

Und die angeblich so hohen Steuereinnahmen reichen offenbar nicht aus, um genügend Kitaplätze anzubieten oder Straßen mehr als nur notdürftig zu flicken. Und schließlich ist es eine Dreistigkeit sondergleichen, die Mär von der Krise als Staatsschuldenkrise gleichzeitig mit der Behauptung zu verbreiten, der Staat habe genug Geld.